Dortmund. Neue Schilder und Ampeln: Dortmund hat seine Jugendverkehrsschule von 1959 modernisiert. Die Realität der „echten“ Straße ist allerdings härter.

Da vorn kurvt wild ein Geisterfahrer, Ella wird schon wieder rechts überholt, und Lucas muss mit quietschenden Reifen bremsen. „Ich hatte Vorfahrt! Was soll das?“ Zum Glück ist die Polizei schon da. Und auch kein Auto in der Nähe: Dies ist die Jugendverkehrsschule in Dortmund, ein Stückchen Straße hinterm Zaun. Die sie nach mehr als 60 Jahren endlich auf den Stand von heute gebracht haben – nur der Verkehr von heute lässt sich unmöglich noch simulieren.

Dortmunder aller Generationen seit 1959 werden sich erinnern: wie sie als Drittklässler am Rand des Fredenbaumparks autofrei durch die Stadt manövrierten, zwischen Verkehrsschildern und Ampeln gerade so groß wie sie selbst. Allein, die Schilder waren längst verwittert, Radwege, und rote zumal, gab es noch gar nicht, das bevorzugte Verkehrsmittel waren - Gokarts. Und die Ampeln: Ihr mechanisches Schaltwerk, glaubt Hermann Lüer aus der Stadtverwaltung, sei „ein Museumsstück“, wahrscheinlich „das letzte in Deutschland“. Kenner berichten, es habe etwa so funktioniert wie eine Spieluhr...

Volle Konzentration voraus: Die Schülerinnen müssen auch Pfützen und Laub umkurven, ohne zu fallen.
Volle Konzentration voraus: Die Schülerinnen müssen auch Pfützen und Laub umkurven, ohne zu fallen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Neue Straßen, neue Ampeln, neue Schilder für 630.000 Euro

Im Jahr 2023 sind diese Ampeln nun digital und so neu wie die Stopp-, Radweg- und Vorfahrtsschilder, die Kinder aus der Hansa-Grundschule gerade entschlossen missachten. (Freie Fahrt!, hatte der Polizist an der Kreuzung aber auch gerade ausgegeben, und das, man weiß es von den Erwachsenen, ist ja ein gefährlich weiter Begriff.) Und die Ampeln sind zu groß: Die kleinen Masten für Verkehrslehrlinge waren nicht lieferbar.

Ansonsten haben sie alles aufgehübscht, „von unter der Erde bis ganz oben“, sagt Herr Lüer vom Schulverwaltungsamt. Der Asphalt ist wieder dunkelgrau, die Fahrbahnmarkierung weiß, die Schilder leuchten rot und gelb, und sogar die Bäume sind frisch geschnitten, von den Wurzeln, die sich in die Drainagen gebohrt hatten bis in die Kronen. Verkehrssicherheit unten und oben, und ab sofort sind Platanen und Verkehrsinseln Teil des „Parkpflegewerks“ im Fredenbaum.

630.000 Euro hat das alles gekostet, neben der Stadt legten Sparkasse, ein Schulförderungsverein und Deutsche Verkehrswacht zusammen. Letztere hält gemeinsam mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) den Betrieb am Laufen. Ehrenamtliche „regeln“ im Dortmunder Norden den Verkehr und schulen seine kleinen Teilnehmer, früher machte das die Polizei.

Polizistin: Autofahrer sind aggressiver und rücksichtloser geworden

Kleine Ampeln waren nicht mehr lieferbar, gibt es im „echten“ Verkehr aber auch nicht.
Kleine Ampeln waren nicht mehr lieferbar, gibt es im „echten“ Verkehr aber auch nicht. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Bis die irgendwann merkte, dass das Gelände, von den Bürgern früher liebevoll „Verkehrskindergarten“ genannt, obwohl man schon neun Jahre alt sein muss, um hier zu spielen, für die „echte“ Welt nicht mehr reicht. „Draußen ist es realer“, sagt Polizeihauptkommissarin Nicole Jünemann und meint mit „real“ nicht nur die Autos, die natürlich mehr geworden sind. Sondern auch ihre Fahrer: „Aggressiver, rücksichtsloser, verständnisloser, ungeduldiger“ seien die geworden. Mancher nehme nicht mal mehr die Polizistin wahr, obwohl sie in ihrer Uniform „so schon leuchtet“. Weshalb die Polizei irgendwann erkannte: „Es ist schön hinterm Zaun, aber wir müssten da hin, wo es auch brennt.“

Zur Fahrradprüfung gehen Viertklässler deshalb auf die Straße, ein Jahr vorher, in der Jugendverkehrsschule, lernen sie. Nicht „nur“ die Verkehrsregeln: Viele, sagen die Mitarbeiter, können noch gar nicht sicher radfahren. Zur Wiedereröffnung nimmt ein Junge am Montag den Roller. Sie üben spielerisch, das Gleichgewicht zu halten, den Lenker loszulassen; so ein Rad hat schließlich immer noch keinen Blinker. „Hand auf die Nase, an den Helm, an den Popo“, zählt Michael Mertens auf, „Abklatschen oder etwas in die Luft Schreiben.“ Mertens hilft als Ehrenamtlicher, war bis zu seiner Pensionierung selbst Hauptkommissar.

Polizei mahnt: Das Elternhaus müsste die Kinder fit machen für den Straßenverkehr

Manches Kind – so es denn ein vorzeigbares hat – muss sein Rad auch erstmal kennenlernen: Funktionieren die Bremsen, und wie geht eigentlich das Licht an? „Das ist nicht wie bei Harry Potter“, erklärt Nicole Jünemann zuweilen noch den „Großen“. Auch Ex-Kollege Mertens kennt viele, die das Fahrrad im Verkehr gar nicht sicher halten können. „Von allein macht’s der Körper nicht“, oft fehle die Motorik. „Sie müssen erst draufbleiben können, dann können sie auch gucken.“ Die Gründe, weiß die Polizei, reichen von „Das lernen sie zu Hause nicht“ bis „Sie sind überbehütet“. Dabei: „Das Elternhaus muss das eigentlich bringen.“

Unter Aufsicht von Verkehrswacht und Lehrerin drehen die Drittklässlerinnen ihre Runden.
Unter Aufsicht von Verkehrswacht und Lehrerin drehen die Drittklässlerinnen ihre Runden. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Warum aufpassen: „Hier fährt doch gar kein Auto?“

Aber wehe, wenn die Kinder losgelassen. Anfangs wackeln sie noch hintereinander durch die kleinen Straßen, halten mit quietschenden Bremsen vor roten Ampeln, strecken wenigstens für Sekundenbruchteile die kurzen Arme aus. Das gibt Stau. Doch als sie frei fahren dürfen, da ignorieren sie den Radweg, biegen von der Rechtsabbieger-Spur nach links und strampeln fröhlich in den Gegenverkehr. Und warum sollen sie halten und gucken, „hier fährt doch gar kein Auto“???

Gut, dass die Verkehrswacht da ist: Die bringt die Klasse 3 gleich wieder in die Spur, „Durchfahrt verboten“ und „Guck mal, wohin die Beine zeigen“! Ergeben halten die Grundschüler an, „da kommt doch keiner, oder“? Sie werden ihnen auch noch die Theorie erklären und das Problem des toten Winkels. Die ganze Klasse passt dort hinein, und vom Fahrersitz des Polizeiautos ist im Rückspiegel nicht ein einziges Kind zu sehen. „Wo sind die?“, fragt ein Mädchen verwirrt und läuft noch einmal gucken – alle da. Und jetzt stell dir vor, sagt Michael Mertens: „So ein großer Lkw hat hinten nicht einmal ein Fenster!“

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