Witten. . Der Kinder- und Jugendmediziner Prof. Boris Zernikow hat immer mehr junge Patienten, die über Schmerzen klagen. Ein wichtiger Grund: Schulstress.

Prof. Boris Zernikow ist ein Experte für Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Der 50-jährige Mediziner hat einen Lehrstuhl für Kinderschmerztherapie und pädiatrische Palliativmedizin an der Uni Witten/Herdecke. Was der Arzt in den vergangenen Jahren beobachtet: Immer mehr Kinder klagen über Kopf- und Bauchschmerzen, immer mehr Jugendliche über chronische Rückenschmerzen. Eine wichtige Ursache sei heute der Stress in der Schule. Zernikow: „Das G8-Abitur war eines der dümmsten Ideen der letzten 50 Jahre.“

Weil der Professor es vorbildlich versteht, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse der Öffentlichkeit verständlich zu vermitteln, haben ihm die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gerade mit dem Communicator-Preis ausgezeichnet. Zernikow ist ein Arzt, der den sprichwörtlichen Finger in die Wunde legt, wenn es um seine jungen Patienten geht.

Auch Mobbing kann Schmerzen machen

Stichwort: Turbo-Abi. „Schon Kinder in der Grundschule sagen mir: Ich will später studieren, jetzt muss ich mich anstrengen“, erzählt der Arzt. Der ergänzt, dass der Schulstress einhergehe mit weniger Erholung. „Durch G8 gibt es oftmals keine Zeit mehr, um in den Sportverein zu gehen, um mit 15 einfach mal rumzugammeln.“ Kinder, so der Professor, wüchsen heute zwar ohne Krieg und im relativen Wohlstand auf. „Dafür haben sie teilweise einen sehr großen Druck.“

Wittener Professor im Bergbaumuseum ausgezeichnet

Seit 2000 verleihen die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft den Communicator-Preis an Wissenschaftler, die sich durch herausragende Leistungen in der öffentlichen Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse auszeichnen.

Der Mediziner Boris Zernikow, Professor an der Uni Witten/Herdecke, ist der Preisträger 2015. Im Bergbaumuseum Bochum wurde er jetzt für seine engagierte öffentliche Vermittlung der Themen Schmerz, Schmerztherapie und Palliativversorgung bei Kindern und Jugendlichen geehrt. Der Preis ist mit 50.000 Euro dotiert.

Und dieser kann sich durch Schmerzen ausdrücken, weiß der Chefarzt für Kinderschmerztherapie, pädiatrische Palliativmedizin und Psychosomatik an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln. „Das ist eine Interaktion zwischen Psyche und Körper.“ Schmerzen könnten ein Signal dafür sein, dass kindliche Bedürfnisse nicht befriedigt würden. „Ein Kind kann aber auch Schmerzen empfinden, wenn es in der Schule gemobbt wird, wenn Eltern es schlagen, es seelisch oder sexuell missbrauchen.“

Junge Patienten, die in der Schule gemobbt werden, die erlebt der Arzt täglich als Patienten in seinem Krankenhaus. Auch Eltern, die aus Liebe nur das Allerbeste für ihr Kind wollen, es aber durch zu hohe Ansprüche, Wünsche, Ziele, durch zu viel Freizeit-Programm zusätzlich unter Druck setzen. „Auch aus Liebe kann man manchmal Dinge machen, die nicht optimal sind“, wie es Prof. Zernikow diplomatisch ausdrückt.

Der der Ansicht ist, dass die heutige Welt weder für Kinder noch für Eltern einfach ist. Der es aber sehr wichtig findet, dass Kinder in Familien als vollwertige Mitglieder ernst genommen werden, ihre Grundbedürfnisse „nach Liebe, Wertschätzung, Gesehenwerden und körperlicher Unversehrtheit“ befriedigt werden. Die Realität, so der Arzt, sehe in Familien aber manchmal anders aus. „In armen und auch reichen. Es gibt den Begriff der Wohlstandsverwahrlosung.“

Schmerzmedikamente nicht immer die richtigen Mittel

Über Schmerzen erhalten Kinder Aufmerksamkeit, sagt Zernikow. Und stellt klar: „Kinder sagen nicht, ich habe Schmerzen und sie haben keine. Die Schmerzen gibt es!“ Medikamente – für den Mediziner ein eigenes Thema. „Wir haben immer mehr Jugendliche mit chronischen Rückenschmerzen, die mit Medikamenten behandelt werden, die sie nicht brauchen. Wenn wir die absetzen und dafür Physiotherapie und psychologische Verfahren anbieten, die die Patienten vom Schmerz ablenken, geht es ihnen viel besser.“

Gebe man Kindern und Jugendlichen mit chronischen Rücken-, Kopf- oder Bauchschmerzen ständig Arzneimittel, habe man eher das Risiko, dass sich der Schmerz verstärke. „Denn das Nervensystem verändert sich dadurch in eine Richtung, die wir nicht wollen. Es reagiert nicht weniger, sondern sensibler auf Schmerzen.“

Aber: Zernikow setzt nicht immer Schmerzmittel ab. „Wer Migräne hat oder eine Osteoporose des Rückens, der braucht sie.“ Bisher sei ein Großteil der Schmerzmittel übrigens nicht an Kindern getestet. „Es laufen hierzu aber viele Studien, an denen ich auch mitwirke.“