Dortmund. Der Tod von Mouhamed D. löst eine Debatte über Rassismus in der Polizei aus. Ein Besuch in der Nordstadt zeigt, wie tief die Wunden sind.

In Dortmund brodelt es. Warum starb der 16-jährige Mouhamed D. bei einem Polizeieinsatz in der Nordstadt? Durch fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole. Der Fall trieb mehrere hundert Menschen zu vier Kundgebungen, sie riefen „Mord“ und berichteten auf der Bühne von rassistischen Übergriffen. In Köln, Berlin und Leipzig soll es weitere Demonstrationen geben. Im Senegal, der Heimat des Opfers, zogen Menschen mit einem Bild Mouhameds durch die Straßen und klagten an: Er wäre nicht erschossen worden, wenn er weiß gewesen wäre, sagte ein Teilnehmer in den senegalesischen Nachrichten.

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Egal, ob der Fall sich tatsächlich für eine Debatte über Rassismus in der Polizei eignet – die Diskussion ist da, mit aller Macht. Verschwörungstheorien machen die Runde. „Das hat die Polizei doch geplant“, sind sich die Männer einig, die vor einem Eckbistro in der Nähe des Todesortes stehen. Die Männer haben dem Einsatz von außen zugeschaut, die Straße war abgeriegelt, aber sie führen an, dass eine Trage schon vorbereitet wurde, bevor es zu den Schüssen kam. So denke die gesamte Nachbarschaft.

Viele sind offenbar nur oberflächlich informiert

Dass die Polizei gerufen wurde, weil der Jugendliche Suizidabsichten hegte, haben sie nicht mitbekommen. Diese Info bringt sie kurz zum Nachdenken. Doch: Elf gegen einen. Trainierte Polizisten mit Maschinenpistole gegen einen Jungen mit Messer. Fünf Kugeln im Körper. Bodycams ausgeschaltet ... Nicht nur an dieser Ecke, in vielen Gesprächen wird deutlich, dass es diese Stichworte sind, die in vielen Köpfen ein Bild entstehen lassen, das sich nicht mit den Fakten deckt:

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Mouhamed D. war gerade aus einer LWL-Klinik für Psychiatrie entlassen worden, nach nur einem Tag. Auf der Flucht soll sein Bruder vor seinen Augen ertrunken sein. Er hielt sich im Garten, zugleich der Pfarrhof der Kirche St. Antonius, ein Messer gegen die Brust. So trafen ihn auch die Polizisten an, die ihn vom Suizid abhalten wollten. Die Zeugen von der Ecke sagen, dass zunächst nur zwei Beamte in Zivil hinein gegangen seien. Ob weitere folgten, ist unklar. Laut Staatsanwaltschaft sicherten einige der elf Polizisten die Umgebung, der spätere Schütze positionierte sich auf der Missundestraße hinter dem Hof, vom Geschehen getrennt durch einen Zaun. Hier lagen später auch die Patronenhülsen.

Die zwei Polizisten, die auf den 16-Jährigen einwirkten, sprachen kein französisch. Als der Einsatzleiter glaubte, dass der Jugendliche sich etwas antun wollte, gab er den beiden den Befehl, Reizgas einzusetzen – doch der Jugendliche ließ das Messer nicht fallen, rannte plötzlich auf die Beamten zu.

Bei Suizid-Einsätzen sind Bodycams aus

Sarra Lejmi, Sprecherin des Jugendforums Nordstadt
Sarra Lejmi, Sprecherin des Jugendforums Nordstadt © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Mouhamed D. muss weniger als acht Meter entfernt gewesen sein, als sie mit ihren Tasern schossen, denn das ist die maximale Distanz. Die Drähte verfehlten den Jugendlichen. Kurz bevor Mouhamed D. mit vorgehaltem Messer einen Kollegen erreichte, schoss der Polizist hinter dem Zaun mehrfach mit seiner Maschinenpistole. Fünf Kugeln trafen den 16-Jährigen, er starb wenig später im Krankenhaus. Und warum waren die Bodycams aus? Laut Innenministerium war das richtig so: Bodycams sollen keine möglichen Suizide filmen.

„Ich war wütend, als ich von diesem Fall las. Ich war traurig, ich wusste gar nicht, wie mir zu helfen ist“, sagt Sarra Lejmi, Sprecherin des Jugendforums Nordstadt. Ihre Gefühle trieben sie und etwa 80 weitere Menschen zur ersten spontanen Kundgebung auf dem Kurt-Piehl-Platz. „Die Polizisten waren in der Überzahl“, berichtet Lejmi. Sie hätten sich einschüchternd nah an die Teilnehmer gestellt, einer habe ihr die Sicht verdeckt. Eine andere Polizistin habe bei Schilderungen von Betroffenen die Augen verdreht. „Einem Polizisten habe ich dann gesagt: Reicht es euch nicht, was passiert ist?“

„Viele Familien mit schwarz gelesenen Kindern schicken diese momentan nur ungern raus“, sagt William Dounatio, einer der Organisatoren der Kundgebungen … Aber ist das nicht übertreiben? – „Es ist ein Trauma. Es passiert mir jede Woche, wenn ich solche Nachrichten lese, dass ich mich einschließen und weinen muss. Man ist immer tiefer verletzt, mit jedem Fall.“

William Dounatio, Organisator der Kundgebungen.
William Dounatio, Organisator der Kundgebungen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Dies bestätigen die Psychosozialen Zentren, die sich um traumatisierte Flüchtlinge kümmern. Über ihren Bundesverband BAfF fordern sie eine unabhängige Aufklärung (wie auch 60 Wissenschaftler in einem Aufruf): Der Fall wecke „vor allem bei Jugendlichen of Color und Schwarzen Jugendlichen schmerzhafte Erinnerungen an Fälle von unverhältnismäßiger rassistischer Polizeigewalt. Das Vertrauen der Jugendlichen in staatliche Strukturen wird erneut massiv erschüttert, wenn die Polizei ... eine Bedrohung für ihr Leben ist.“

William Dounatio schildert so einen Fall. Er war Zeuge eines Autounfalls. Eine blonde junge Frau war einem „schwarz gelesenen Freund“ aufgefahren. Sie habe ihm Geld geboten, der Freund habe lieber die Polizei gerufen. „Beide Polizisten gingen aber erst mal zu der blonden Person. Sie hatte auf einmal eine andere Haltung, hat eine gespielte Angst gezeigt. Sie sagte offenbar, sie sei bedroht worden. Da ging ein Polizist gleich auf meinen Freund zu mit der Handkante an seinem Hals und schob ihn drei Meter zurück: Du hältst jetzt die Fresse, sonst erlebst du was. Sie haben nicht mit ihm gesprochen und nicht mit mir oder anderen Zeugen. Sie haben sich auch geweigert, seine Anzeige aufzunehmen.“

Kritiker führen weitere Fälle mutmaßlicher Polizeigewalt an

Gespräch mit Betroffenen und Sozial-Mitarbeitern des Stollenparks am Mittwoch den 17. August 2022 in Dortmund. Im Bild: Ali Sirin. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services
Gespräch mit Betroffenen und Sozial-Mitarbeitern des Stollenparks am Mittwoch den 17. August 2022 in Dortmund. Im Bild: Ali Sirin. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Wenn Du nichts gemacht hast, musst du nichts befürchten. Dieser Spruch gilt für uns nicht, sagt Ali Şirin, Träger des Talent-Awards für seine Arbeit mit dem Jugendforum. Er sieht den aktuellen Fall in einer Reihe: Am 14. April 2006 tötete ein Polizist den 23-jährigen Kongolesen Dominique Koumadio mit zwei Schüssen vor einem Kiosk in Dortmund Eving. Laut Staatsanwalt handelte er in Notwehr, Koumadio war mit einem Messer bewaffnet. Vor recht genau zehn Jahren starb der 45-jährige Ousman Sey aus Gambia nach einer Verhaftung. Er lebte in der Nordstadt, rief zweimal einen Krankenwagen, weil er sich schlecht fühlte, doch die Rettungskräfte verweigerten den Transport ins Krankenhaus. Ousman Sey wurde laut in seiner Wohnung, Nachbarn riefen die Polizei. Im Gewahrsam brach Sey zusammen und starb wenig später an Atemstillstand.

„Wir sind ein Flüchtlingshilfeverein“, sagt Fatma Karacakurtoglu von „Train of Hope“. „Junge Männer stehen bei uns vor der Tür und rauchen. Die Polizei möchte ohne Grund ihre Ausweise sehen. Einer hat seinen nicht dabei und sagt, dass er ihn zwar holen könne, aber gleich einen Zahnarzttermin habe. Gut, dann kommst du jetzt mit auf die Wache, sagen die Beamten. Und führen ihn in Handschellen ab. In Handschellen!“

„Es geht meistens um die Art und Weise“, sagt Karacakurtoglu. „Dieses ständige unter Verdacht stehen, diese pauschalisierenden Ausdrücke ... Nicht nur das Misstrauen gegen die Polizei, auch die Abneigung ist groß.“ – Aber die Kriminalität in der Nordstadt ist doch nachweislich zurückgegangen, seit die Polizei hier 2016 eine Ermittlungskommission gegründet und massiv aufgestockt hat. Fühlen sich die Menschen nicht sicherer? – Der Rückgang sei auch zu erklären mit weniger Armutskriminalität, weil die Zuwanderer aus Südosteuropa stärker integriert seien, glaubt Karacakurtoglu. „Die Polizei ist nicht dafür da, den Menschen mit Migrationshintergrund mehr Sicherheit zu vermitteln, sondern dass man vor ihnen sicher ist.“

Ältere Damen wurden auf dem Weg zur Kirche überfallen

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Freilich sieht man die Arbeit der Polizei vielerorts auch positiv. Gerade erst ist Nordstadt-Pfarrer Ansgar Schocke auf seinem Weg zur Arbeit an „Scherben, Blut und Absperrbändern“ vorbeigelaufen. Der Keuningpark, sagt er, sei der Drogenumschlagplatz Nummer eins. Seit die Polizei 2016 die Nordstadt zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht hat, ist die Straßenkriminalität nachweislich stark zurückgegangen. „Grundsätzlich“, sagt Schocke, „sind die meisten Gemeindemitglieder froh darüber. Wir haben erlebt, dass ältere Damen auf dem Weg in die Kirche überfallen wurden, dass ihnen die Ketten vom Hals gerissen wurden. Das hat sich schon verändert.“ Auch durch die Videoüberwachung habe sich der Platz vor der Joseph-Kirche beruhigt, auf der Münsterstraße werde nicht mehr so offensichtlich gedealt.

Schocke hat einen Gedenkgottesdienst für Mouhamed D. gehalten. Dort und beim Gemeindefest haben viele Mitglieder „massive Fragen“ gestellt. Andere hätten wild spekuliert, ohne Hand und Fuß. Auch Schocke hat Fragen. „Es hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Aber grundsätzlich sei das Vertrauen in die Polizei groß. Er betont, dass er nur für seine Gemeindemitglieder sprechen könne, die eher nicht „in das Raster von Polizeikontrollen“ fielen.

„Das ist wie bei der Katholischen Kirche“

Veye Tatah vom Dortmunder Verein Africa Positive.
Veye Tatah vom Dortmunder Verein Africa Positive. © WAZ | Thomas Mader

„Wir als Mütter und Väter, die schwarze oder arabische Kinder haben, wir sorgen uns, dass unsere Kinder schlecht behandelt werden“, sagt Veye Tatah. Die Informatikerin und Bundesverdienstkreuzträgerin leitet den Verein Africa Positive, sie hat zwei Söhne. „Einer ist vor zwei Jahren von der Polizei geprügelt worden“, sagt sie. Die Täter hätten sich gegenseitig gedeckt. „Die Mehrheit der Kinder wird in der Nordstadt geboren, nicht im Süden Dortmunds, wo auch ich wohne. Die Nordstadt ist die Zukunft Dortmunds … Dieser Fall gibt uns die Möglichkeit zu fragen: Wie wollen wir in Zukunft leben?“

Auch Tatah fordert eine unabhängige Aufklärung. „Wenn die Polizei sich selbst kontrolliert, ist das wie bei der Katholischen Kirche. Schauen Sie mal, wie viele da weglaufen. Mehr Polizeipräsenz sei grundsätzlich nicht schlecht, aber die Polizei müsse selbst bunter werden. Sie sei nur ein Spiegel der Gesellschaft, findet sie. „Es fängt in der Schule an. Die Kinder bekommen mit: Alles was nicht deutsch ist, ist Gefahr. Selbst Migrantenkinder wachsen so auf, woraus oft ein Minderwertigkeitskomplex resultiert. Wenn es mal schwarze Polizisten gäbe, würden die Kleinen vielleicht andere Vorbilder entwickeln. Vor kurzem hatten wir die Feuerwehr eingeladen, das ist sehr gut angekommen.“ Und es brauche eine andere Zugewandtheit, so wie beim Schutzmann an der Ecke.

In diesem Punkt ist sie sich mit Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) einig, dessen „erste Gedanken bei den Polizisten waren“, der aber auch „die Menschen verstehen kann, bei denen durch den Einzelfall Gefühle und Sichtweisen entstehen, die zu einem Gesamtbild führen, das sie das Vertrauen in die Polizei verlieren lässt.“ Westphal will sich nun ebenso wie Polizeipräsident Gregor Lange dafür einsetzen, „die Verbindungen der Polizei mit den Menschen in der Nordstadt zu vertiefen“. Das bedeutet für ihn auch: „Wir brauchen mehr Polizei.“