Dortmund. Als Kriminalitätsschwerpunkt betrachtet die Polizei die Dortmunder Nordstadt. Auch wenn es besser wird, Bewohner beschreiben eine krasse Lage.
Keine Minute auf dem Dortmunder Nordmarkt, da bekommt der Verfasser den ersten Pfiff, das Angebot eines Drogendealers. Stellen Sie ihn sich vor wie Vin Diesel ohne Muskeln. Morgens um elf sind einige Grüppchen schon gut betankt, andere trinken ihren Kaffee, drumherum fährt eine hagere Frau selten glücklich mit ihrem Roller im Kreis. Zwei Frauen in exotischen Trachten ziehen durchs Bild. Die kantigen Männer vom Ordnungsamt nehmen gerade die Personalien eines Gröhlers auf.
Die Nordstadt ist einer der „gefährlichen und verrufenen Orte“ im Lande, zu denen seit Mittwoch auch die Straßen und Plätze bekannt sind. Die AfD hat diese Information von der Landesregierung erstritten. Diese wollte die Arbeit der Polizei nicht gefährden und befürchtete eine Diskriminierung der Bewohner. Der Neuigkeitsgehalt ist relativ, denn welche Viertel von der Polizei als „gefährliche Orte“ deklariert wurden, war zumeist lokal bekannt (wenn auch nicht straßengenau). Zum Beispiel hatte diese Zeitung ausführlich berichtet, als Duisburg-Hochfeld im Juli 2019 dazustieß – nur für einige Wochen.
Die meisten „gefährlichen Orte“ existieren nur temporär
Denn die Polizei muss es monatsweise begründen, wenn sie diese Kategorisierung vornimmt. Dann kann sie anlasslos kontrollieren. Manchmal geschehen an einem „gefährlichen Ort“ tatsächlich überdurchschnittlich viele Straftaten; manchmal aber nimmt die Polizei auch nur an, dass sie dort geplant werden. So hatte die Polizei fünf Orte in Recklinghausen und einen in Bottrop als „gefährlich und verrufen“ eingestuft, um dort eine Razzia machen zu können. Dies geschah Anfang 2017. Vorher gab es keine gefährlichen Orte in Recklinghausen, Ende des Jahres waren sie wieder verschwunden. So kommt es, dass es im Berichtszeitraum von 2010 bis 2017 zwar 44 „gefährliche Orte“ im Land gab, doch in keinem Jahr waren es mehr als 26 zugleich.
Auch im Bereich des Präsidiums Essen-Mülheim gab es „Fluktuation“: Zwei Bezirke standen bis 2016 im Fokus wegen Drogen und Prostitution (Teile der Essener Innenstadt) und Rockerkriminalität (Mülheims Zentrum und rund um die Ausgehmeile Sandstraße). Danach verschob sich der „verrufene“ Teil der Essener City und Altendorf kam hinzu (beide wegen Drogendelikten). Eine solche Verschiebung, die zu einer Doppelzählung führt, gab es auch in der Dortmunder Nordstadt. Der Bereich um den Drogenkonsumraum Kick ist schon Ende 2016 aus der Liste herausgefallen. Mit dem Rotlichtviertel von Oberhausen und dem Hagener Bahnhofsumfeld sind alle 2017 aktiven Orte im Ruhrgebiet genannt – Überraschungen sind nicht dabei.
Als Klassiker unter den „verrufenen Orten“ darf die Nordstadt gelten. Dortmund kämpft hier seit Jahren. Täglich schickt das Ordnungsamt bis zu 14 Mitarbeiter in die Nordstadt, auch zusammen mit der Polizei. 2011 ist der Straßenstrich „hinter Hornbach“ geschlossen worden. Die Zahl der Prostituierten, die sich dennoch an die Ravensberger Straße stellen sinkt von Jahr zu Jahr. Seit 2016 gibt es die Ermittlungskommission Nordstadt, zwei Staatsanwälte kümmern sich um Diebstähle und Körperverletzung, einer um Drogendelikte. Seitdem ist die Zahl der Straftaten um rund 27 Prozent auf 10.669 Fälle (2019) zurückgegangen – stärker als in der Gesamtstadt, in der die Polizei allerdings auch weniger Kriminalität verzeichnet als noch vor 15 Jahren.
Aber merkt der Bürger das auch, wie ist die Lage am Nordmarkt?
„Besser, natürlich“, sagt Frank Letsch, und er muss es wissen. Denn als Minijobber räumt er für die Diakonie den Müll der Junkies, der Alkoholiker und Abgehängten weg, den sie trotz aller Bemühungen auf dem Nordmarkt hinterlassen. „Spritzen findet man nicht mehr so häufig“, sagt Letsch, insgesamt sei es deutlich weniger Müll geworden. „Schuhe, Anziehsachen, mal findste auch ein Messer. Und die können es einfach nicht lassen, ihre Essenssachen überall liegen zu lassen. Manchmal wird mir da richtig schlecht.“ Aber die letzte Prügelei sei schon vier Wochen her, „es ging um Drogen oder was weiß ich“.
Die „Gefahr“ kommt auch in unerwarteter Gestalt. „Das Problem sind die Kinder“, berichtet der Gemüsehändler Ayad Ismael an der Mallinckrodtstraße, die vor Jahren als Arbeiterstrich für Bulgaren und Rumänen berüchtigt war. „So wie dieser Junge.“ Da fährt er glatt mit seinem Rad zwischen uns hindurch. „Die Eltern wissen, dass das Gesetz ihnen nichts kann, sie schicken die Kinder klauen. Ständig muss ein Mitarbeiter vorm Geschäft bleiben, sonst ist alles weg.“
„Das Viertel ist vor 14 Jahren gekippt“
„Ich wohne seit 33 Jahren am Borsigplatz, ja, mein ganzes Leben“, sagt eine Frau, die wir mit ihrer Mutter antreffen. Sie mag „die kulturelle Mischung“, ihre Freunde sind dort und die Mieten so günstig, dass sich das Wegziehen verbietet. Und ja, sie fühle sich sicher … tagsüber. Aber man werde schon oft angemacht, einmal sei der Tochter ein Mann gefolgt, sie flüchtete ins Kaufland. Ach, der Bruder wurde mit dem Schlagring überfallen. – Und Drogen? Ja, aus ihrem Fenster könne sie jeden Tag sehen, wie die Wagen kurz halten, dann wird etwas hineingeworfen ... Der Blick ihrer Mutter wird immer düsterer, dann sagt sie: Das Viertel sei vor rund 14 Jahren gekippt. „Früher waren da mal Blumenläden, Boutiquen, man konnte abends ein Eis essen gehen, jetzt gibt’s nicht mal mehr ein Edeka und ich muss mein Portemonnaie verbunkern, wenn ich rausgehe.“
Auch Lena Gärtner, 24, wohnt seit fünf Jahren gerne in der Nordstadt, hat „noch absolut keine schlechte Erfahrung gemacht“. Nur eine Kollegin im Supermarkt sei mal mit der Spritze bedroht worden. Und dann gab es diese Gruppe von 20 „motivierten Säufern“, die den Laden gestürmt hatten, um mit Krawall, Wodka und Frikadellen im Mund zu türmen. Die Polizei habe drei geschnappt. Neulich habe vor ihrem Waschsalon an der Münsterstraße (Beititel: „Dortmunds lebendiges Pflaster“) „ein Geisteskranker auf Koks rumgeschrien.“ Da hat sie die Polizei gerufen, kein Problem. „Hier gibt es viele Junkies, viele verlorene Seelen.“ Lena Gärtner ist robust, sie hatte sich Dortmund ja ausgesucht als Kontrast zum Dorf. „Aber ich hab mittlerweile gemerkt, dass ich jetzt wieder weg will.“
>> Info: Propaganda mit Angst
Seit Jahren warnt Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange, dass die Wahrnehmung von Kriminalität sich entkoppelt von der tatsächlichen Entwicklung. Die Polizei verweist auf ein Zitat vom August 2019: „Ich warne davor, denjenigen auf den Leim zu gehen, die aus politischem Kalkül mit gezielter Desinformation Angst schüren, um daraus Kapital zu schlagen und die Deutungshoheit für sich in Anspruch zu nehmen.“