Essen. Nach einem Schlaganfall kämpft ein Essener darum, wieder fit zu werden. Die Uniklinik setzt in der Akut-Therapie erstmals auf Virtual Reality.

Am liebsten jagt Volker Debitsch Meteore. Und er macht das gut. Greift, sobald sie vorbeifliegen, mit der rechten Hand gezielt nach den blauen und mit der linken flink nach den roten. Physiotherapeut Aaron Schlömann ist sehr zufrieden mit dem 59-Jährigen, der da so agil vor ihm auf der Bettkante sitzt – mit einer dicken Virtual-Reality-Brille auf der Nase. Neun Tage ist es schließlich erst her, dass Debitsch nahezu komatös mit einer „Basilaris-Embolie“ in die Notaufnahme der Essener Uniklinik eingeliefert wurde, einem Verschluss der Stammhirnarterie, der schlimmsten Schlaganfall-Form.

Angehörige hatten bemerkt, wie der Essener Unternehmer „von jetzt auf sofort“ – eben: schlagartig – „eintrübte“, schläfrig und langsam wurde, sich seine Augen nicht mehr normal bewegten, er immer verwaschener sprach. Volker Debitsch selbst sagt: „Ich fühlte mich wie betrunken.“ Dass seine Familie entsetzt einen Rettungswagen rief, erinnert er schon nicht mehr.

Verschluss der Stammhirnarterie: akut lebensbedrohlich

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Ein Verschluss der Stammhirnschlagader ist selten, aber akut lebensbedrohlich. Unbehandelt sterben 98 Prozent der Betroffenen, sagt Prof. Martin Köhrmann, Leiter der Stroke Unit, der Schlaganfall-Station des Klinikums. Und auch für die, die überleben, sei die Prognose schlecht. „Durchs Stammhirn muss alles durch, da sind die archaischen Dinge abgelegt“ – es regelt zentrale Körper-Funktionen wie Atmung, Vigilanz (Wachheit) und Bewegung, aber auch Schluckreflex und Schlafphasen. Am ärgsten betroffene Patienten entwickeln ein „Locked-In-Syndrom“, sind bei wachem Bewusstsein in ihrem vollständig gelähmten Körper gefangen. „Ist das Stammhirn betroffen, stehen wir mit dem Rücken zur Wand“, sagt Köhrmann.

Das „Blopp-Spiel“ trainiert die Feinmotorik, genauer: „alternierende Oppositionsbewegungen“. Es gibt dutzende weiterer Programme. Der Physiotherapeut verfolgt übers Tablet die Arbeit seines Patienten.
Das „Blopp-Spiel“ trainiert die Feinmotorik, genauer: „alternierende Oppositionsbewegungen“. Es gibt dutzende weiterer Programme. Der Physiotherapeut verfolgt übers Tablet die Arbeit seines Patienten. © FUNKE Foto Services | Heidrich

Volker Debitsch war keine zehn Minuten in der Notaufnahme, da erhielt er im „Schockraum“ bereits eine „Lyse“, eine Infusion, die eine Art „Rohrfrei“-Mittel durch seine Gefäße spülte. Das ist ziemlich rasant, denn vor dieser Standard-Therapie musste zunächst eine Hirnblutung als Ursache für Debitsch’ Zustand ausgeschlossen werden. Dafür brauchen die Ärzte Bilder. Der Computertomograph, der sie macht, steht im Schockraum, das spart Wegezeit. Noch während die Lyse lief, entstanden weitere, detailliertere Aufnahmen des Schadens. Mit Künstlicher Intelligenz (KI) wurden sie aufbereitet, jedem Beteiligten die bunten Durchblutungsbilder aufs Smartphone geschickt.

Blutgerinsel musste operativ aus dem Kopf entfernt werden

Privatdozent Benedikt Frank: Durch smarte Technik liegen Untersuchungsergebnisse viel schneller vor.
Privatdozent Benedikt Frank: Durch smarte Technik liegen Untersuchungsergebnisse viel schneller vor. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Was auf Debitsch’ CT-Bildern zu sehen war, nennt Dr. Benedikt Frank, Oberarzt und Privatdozent der Klinik für Neurologie, „desaströs“. Der Thrombus, das Gerinnsel, das sich an einer vorgeschalteten Engstelle gelöst hatte, musste mittels „Thrombektomie“ entfernt werden. 30 Minuten, nachdem der Patient gekommen war, führten die Spezialisten der Neuroradiologie dazu einen Katheter in seine Leiste ein. „Durch unsere smarte Technik liegen Untersuchungs-Ergebnisse viel schneller vor“, sagt Frank. Dank dieser Technik, ergänzt er, könnten heute zudem Patienten „lysiert“ werden, die eigentlich zu spät kommen, oder bei denen man nicht wisse, wann genau der Schlaganfall passiert sei. „Länger als viereinhalb Stunden nach Symptombeginn ist die Lyse nicht mehr zugelassen, aber in ausgewählten Fällen wirksam“, ergänzt Köhrmann. Die KI helfe bei der Entscheidung, wer noch profitiere und wer nicht.

Volker Debitsch erwachte, nachdem man ihm auf der Intensivstation den Beatmungsschlauch gezogen hatte, nicht als gesunder Mann. „Aber ich fühlte mich einigermaßen“, erzählt er. Der Mann, sagen seine Ärzte, habe sich unglaublich schnell und gut erholt.

VR als Ergänzung der klassischen Logo-, Ergo- und Physiotherapien

Frank und Köhrmann entschieden, Debitsch sollte neben Logo-, Ergo- und Physiotherapie, die unmittelbar nach dem Schlaganfall sowieso starten, als einer der ersten Patienten überhaupt auch die neue Virtual-Reality-Therapie bekommen. Sie wurde entwickelt von einer Düsseldorfer Firma, die sich mit der Rehabilitation von Bewegungsstörungen befasst. „Ich kenne deutschlandweit keine andere Klinik“, sagt Frank, „die VR schon in der Akut-Phase anbietet.“ In Essen verstehen sie das Angebot als „Erweiterung des Portfolios“, hoffen, das es die Patienten „mitnimmt“. Passe sicher nicht für jeden, meint Köhrmann, „ist aber schon cool“.

Prof. Martin Köhrmann: Deutschland könnte führend auf dem Gebiet der Digitalisierung in der Medizin sein.
Prof. Martin Köhrmann: Deutschland könnte führend auf dem Gebiet der Digitalisierung in der Medizin sein. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

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Deutschland, glauben die Neurologen, könne führend sein, was das Thema „Digitalisierung in der Medizin“ anginge. „Wir müssen die Möglichkeiten nur besser erschließen für uns, gucken, dass wir die Technik nicht blind nutzen, sondern sie ordentlich evaluieren.“ Geschulte Patienten, erklärt Frank, könnten eine VR-Therapie autark nutzen: alleine, zuhause, während sie auf einen Platz in der Reha warteten – und danach. Außerdem ließe sich bei dieser Therapie das genaue Maß einer Bewegungsstörung viel besser messen und daher gezielter behandeln.

Kochen lernen in der virtuellen Küche

Volker Debitsch ist jedenfalls mit Eifer bei der Sache. „Mir macht’s Spaß“, erklärt er, auch wenn der Meteore genug gejagt sind (womit im Übrigen koordinierte Armbewegungen trainiert werden). Therapeut Schlömann will nun „Blopp“ spielen. Da gilt es, bunte Kugeln zwischen Daumen und einem ganz bestimmten der anderen Finger zu zerquetschen; das schult die Feinmotorik. Schlömann leitet den Patienten an, verfolgt die Übungen via Tablet. Es gibt viele weitere Programme, er könnte Debitsch etwa in einer virtuellen Küche auch Dinge trainieren lassen, die er im wirklichen Leben bald wieder bewältigen muss: abwaschen, kochen, Gemüse schnippeln.

Der 59-Jährige wird in dieser Woche entlassen, in eine stationäre Reha verlegt. Er ist noch nicht über den Berg, fühlt sich noch immer unsicher auf den Beinen – hat aber schon Pläne für die Zeit danach, wenn er wieder „selbstständig und mobil sein“ wird. „Meine Familie sagt allerdings, ich sei nicht mehr so unternehmungslustig wie früher“, klagt Volker Debitsch. Neun Tage nach seinem Schlaganfall.

>>> INFO: Schlaganfall

Die Symptome für einen Schlaganfall (Seh- und Sprechstörungen, Schwindel, Kopfschmerz oder Taubheitsgefühle etwa) sind oft diffus; ein Teil der Betroffenen, sagt Köhrmann, „tendiert zur Verharmlosung“, wollte lieber „eine Nacht drüber schlafen, als sofort in die Klinik zu fahren“. Dabei ist es entscheidend, dass Betroffene so schnell wie möglich behandelt werden.

„Time is Brain“ (Zeit ist Hirn), sagen Neurologen. Jede Minute zählt. „Es wäre toll“, meint Köhrmann, „wenn Schlaganfälle so weh täten wie Herzinfarkte.“ Dann kämen die Menschen schneller.

1500 Schlaganfall-Patienten werden jährlich in der Uniklinik Essen behandelt, ihre Stroke Unit ist eine der modernsten und mit 22 Betten die größte in der Region. 2019 erhielt sie als dritte deutschlandweit die höchste Zertifizierungsstufe der Europäischen Schlaganfallorganisation.