Bochum. Das Bochumer Pilotprojekt KidsDem will Kindern junger dementiell Erkrankter helfen. Denn die leiden schrecklich und oft lebenslang an den Folgen.
Jüngst erst, in der Gedächtnis-Sprechstunde, saß ein Physikprofessor vor Dr. Ute Brüne-Cohrs: verzweifelt, überfordert mit der Aufgabe, 100 minus 7 auszurechnen – 54 Jahre alt. Ihre derzeit jüngste Patientin ist 43, und in der Alzheimer-Ambulanz hatte es die Ärztin schon mit noch Jüngeren zu tun. Keine zwei Prozent aller Demenzerkrankungen betreffen Menschen unter 65 – aber doch 30.000 bis 40.000 Männer und Frauen in Deutschland, so Brüne-Cohrs, Psychiaterin und Psychotherapeutin am Bochumer LWL-Universitätsklinikum. In jeder dritten Familie leben Kinder unter 18. Die Erkrankung von Mutter oder Vater ist für diese Heranwachsenden: „eine Katastrophe“. Eine, an deren Folgen sie womöglich ein Leben lang leiden.
LWL-Klinik, die Alzheimer-Gesellschaft Bochum sowie die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz haben darum jetzt das Projekt „KidsDem“ gestartet. Ziel ist es, eine Versorgungsstruktur für die heranwachsenden Kinder demenzkranker Eltern aufzubauen. Denn noch „gibt es bundesweit nirgendwo gezielte Angebote für diese besonders vulnerable Gruppe“, so Brüne-Cohrs. Sie wird „KidsDem“ wissenschaftlich begleiten, NRW-Gesundheitsministerium und Landespflegekassen fördern das Vorhaben mit 235.000 Euro. In drei Jahren, nach der Pilotphase, soll es anderen Ländern als Vorbild dienen.
Gute Schüler schreiben plötzlich Sechsen
Sie vergessen, den Sohn wie versprochen von der Schule abzuholen; sie erzählen detailreich vom eigenen Sexleben, als die Tochter ihren ersten Freund zu Hause vorstellt; sie müssen vom Kind bekocht, gefüttert, beschützt oder gepflegt werden. Eine dementielle Erkrankung hat immer massive Auswirkungen auch auf die Angehörigen des Betroffenen. Kinder und Jugendliche aber trifft das in einer besonders sensiblen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Einer, in der sie die Eltern besonders bräuchten, und sei es nur, um sich an ihnen zu reiben, sich von ihnen abzugrenzen.
Der Junge, den die früher so verlässliche Mutter vergaß abzuholen, fragte sich, als es wiederholt passierte: Hat sie mich gar nicht mehr lieb? Die Tochter, deren dementiell-enthemmter Vater Intimes ungeniert zum Besten gab, verging vor Scham. „Viele bringen ihre Freunde schließlich gar nicht mit mehr nach Hause, aus Angst vor peinlichen Situationen. Viele fliehen selbst, kommen nur noch zum Schlafen heim oder verbarrikadieren sich hinter ihren Laptops im eigenen Zimmer“, berichtet Brüne-Cohrs. Gute Schüler schrieben plötzlich Sechsen, andere würden wütend, verhaltensauffällig.
Widersprüchliche Gefühle, Zukunftsängste
Zu den widersprüchlichen Gefühlen, mit denen die Kinder dementiell erkrankter junger Eltern zu kämpfen haben, kommen oft große Ängste: Stirbt Mama jetzt? Fliegen wir aus unserer Wohnung, wenn Papa nicht mehr arbeiten kann – der Kredit ist doch noch nicht abbezahlt? Werde ich mit 40 selbst dement sein, die Krankheit erben? Angst aber, so Brüne-Cohrs, sei „ein wirkmächtiger Partner.“ Die faktische oder erlebte Belastung könne zu nachhaltigen Depressionen, psychischen oder auch Sucht-Problemen führen. „Diesen Jugendlichen fliegt die ganze Welt um die Ohren“, sagt Jan Hildebrand, Heil-Pädagoge und Erziehungsleiter bei St. Vinzenz.
Und niemand ist der, mit dem sie darüber reden können: Wenn ein Elternteil dement wird, verändert das auch den anderen, die gesamte Familienstruktur, es frisst Zeit und Zuwendung. Doch in der Peer-Group teilt niemand das Problem, Gleichaltrigen fehlt es an Verständnis für die Situation – über die zu reden zudem nicht allen Betroffenen leicht fällt. „Es gibt Loyalitätskonflikte“, weiß Barbara Crombach von der Alzheimer Gesellschaft Bochum. „Man will die eigene Familie ja nicht denunzieren...“.
Gruppenarbeit zur Stärkung Betroffener
Am 23. September laden die Projektverantwortlichen die Fachwelt zu einer ersten Tagung ein, denn die Problematik sei auch dort „noch nicht angekommen“, so Brüne-Cohrs. Die „KidsDem“-Homepage steht, erste Vorgespräche mit Betroffenen, die an der Studie teilnehmen wollen, haben bereits stattgefunden. Im Sommer beginnt „die eigentliche Arbeit“: Kernstück des Projekts sind wöchentliche Gruppentreffen betroffener Kinder und Jugendlicher, angelegt auf zunächst 18 Monate. Anna Schorling, Sozialpädagogin im ambulanten Jugendhilfezentrum von St. Vinzenz, wird sie zusammen mit zwei Kolleginnen leiten.
„Wir werden am Thema arbeiten“, erklärt Schorling, „gucken, wo Ressourcen sind, die die Betroffenen stärken. Wir werden über die Krankheit informieren, Bewältigungsstrategien vermitteln. Und wir werden zudem viel im Sozialraum der Jugendlichen unterwegs sein, schöne Dinge tun, um sie aus der Schwere der Situation herauszuholen. Bei unseren Treffen sollen die Jugendlichen ihren Tank wieder auffüllen können.“ Man wolle möglichst präventiv wirken, ergänzt Jan Hildebrand; erklären, wie und wo Betroffene Hilfe finden; dass es wichtig sei, sich abzugrenzen, ohne schlechtes Gewissen auch mal auszugehen, Spaß zu haben. „Aber oft ist die größte Unterstützung schon, dass sie sehen: He, ich bin nicht allein mit meinem Problem, da sind noch andere, die kennen das auch.“
Die Kinder leiden still, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück
Es wird Angebote darüber hinaus für Eltern geben, die Alzheimer Gesellschaft Bochum plant, ein eigenes kleines Netzwerk für sie aufzubauen, bietet auch Beratungsgespräche an. „Wir werden die Eltern zunächst einmal zu einem Frühstück oder Kaffeetrinken einladen. Die Familien sollen sich dann kennenlernen, später untereinander austauschen und sich gegenseitig stärken“, erläutert Barbara Crombach.
Tatsächlich sei Eltern anfangs oft gar nicht bewusst, welche gravierenden Auswirkungen die Demenzerkrankung ihres Partners oder ihrer Partnerin auf Sohn und Tochter habe, so Brüne-Cohrs. „Kinder merken, wie sehr auch der nicht-betroffene Elternteil belastet ist, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück.“ Und leiden still. Er wünsche sich vor allem, sagte ein betroffener Junge kürzlich, „dass es mir gelingt, die Krankheit zu entmachten“.
Weitere Informationen unter kidsdem.de und alzheimer-bochum.de. Betroffene zwischen 13 und 21 Jahren, die an der Gruppenarbeit interessiert sind, können sich direkt bei Anna Schorling melden: a. schorling@st-vinzenz-bochum.de oder telefonisch unter 0234 91 31-12.