Bochum. Sechs Jahre, bevor Patienten erste Alzheimer-Symptome entwickelten, erkannten Bochumer Forscher, dass es passieren wird: „Sehr präzise“.
Alzheimer ist unerbittlich. Die Krankheit zerstört nicht nur Nervenzellen im Gehirn. Sie zerstört auch den Menschen, den sie trifft; macht ihn vergesslich, verwirrt, hilflos. 1,6 Millionen Menschen leiden derzeit bundesweit an dieser häufigsten Form der Demenz; im Jahr 2050 werden es Schätzungen zufolge 2,8 Millionen sein. Bochumer Forscher sind im Kampf gegen die heimtückische Erkrankung jetzt ein gutes Stück vorangekommen.
Dem Biophysiker Prof. Klaus Gerwert und seinem Team gelang es, einen „prognostischen Biomarker“ zu finden, das heißt: mithilfe eines in Bochum entwickelten Bluttests das Risiko für eine Alzheimer-Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit vorherzusagen – weil ihr Test die Krankheit erkennt, lange bevor sie ausbricht. Die jüngsten Studienergebnisse, sagt Gerwert, Gründungsdirektor des „Zentrums für molekulare Proteindiagnostik“ (ProDi) an der Ruhr-Uni, seien „sehr präzise“.
Alle 203 Probanden galten als „nicht an Alzheimer erkrankt“
Untersucht wurden die Blutproben von 203 Probanden, die sich zur Alzheimer-Diagnostik in eine „Memory-Clinic“ begeben hatten – weil sie bei sich selbst kognitive Beeinträchtigungen beobachtet hatte, Vergesslichkeit etwa. Klinische Symptome fanden sich trotz gründlicher Untersuchung nicht, die Patienten galten als „nicht an Alzheimer erkrankt“. Im Blut aller 22 Probanden, die im Laufe der folgenden sechs Jahre klinisch erkrankten, ließen sich mit dem Bochumer „Immuno-Infrarot-Sensor“-Test jedoch bereits Fehlfaltungen des „Amyloid-Beta-Peptids“ feststellen, die spätere klinische Erkrankung also richtig prognostizieren. Das fehlgefaltete Protein (Eiweiß) ist für die im späteren Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung typischen Ablagerungen im Gehirn (Plaques) verantwortlich.
„Sechs Jahre vor der klinischen Diagnose zeigt unser Test mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an, ob klinisches Alzheimer entwickelt wird oder nicht“, fasst Gerwert die Brisanz der Forschungsergebnisse zusammen. Denn im Umkehrschluss bedeuten sie: Die Therapie müsse beginnen, bevor die Krankheit ausbricht. Gerwert ist sich sicher, dass bald die ersten Medikamente gegen die Erkrankung auf dem Markt sein werden. „Schon im März wird in den USA vermutlich Aducanumab zugelassen werden.“ Viele „Hoffnungsträger“ seien in bisherigen Studien gescheitert. Gerwert zufolge „vermutlich nur, weil sie den Probanden zu spät verabreicht wurden“.
„Es fängt wenig dramatisch an“
Alzheimer, erklärt der Bochumer Wissenschaftler, verlaufe in drei Phasen. „Es fängt wenig dramatisch an, zunächst merkt man es nur selbst. Dann merken es auch andere und schließlich nur noch andere…“ Aber man nehme nur die klinischen Symptome wahr, tatsächlich beginne die Erkrankung schon 14 Jahre zuvor – mit der Fehlfaltung des Amyloid-Beta-Peptids. Eine Therapie, die starte, wenn die Erkrankung bereits weit fortgeschritten sei, könne den Zustand des Patienten nicht mehr verbessern. „Beginnt die Therapie jedoch, solange der Patient noch symptomfrei ist, sind die Beeinträchtigungen nur gering“, sagt Gerwert.
Seinen Bluttest sieht der Bochumer Forscher zunächst als „Unterstützung“ für klinische Medikamenten-Studien, hilfreich bei der Auswahl der Probanden. Zur allgemeinen Frühdiagnose tauge er derzeit noch nicht – auch wenn ihn täglich zwei, drei diesbezügliche Anfragen Betroffener erreichen. Doch im Bochumer ProDi arbeiten sie an der „Marktreife des Tests“, gründen gerade ein Startup. Ein Sponsor wurde in dieser Woche gefunden. In drei Jahren, hofft Gerwert, könne es soweit sein. Für 100.000 Euro wolle man den Sensor dann anbieten, der einzelne Test werde „schätzungsweise 200 Euro kosten“. Gerwert denkt, dass er irgendwann zur „Standard-Vorsorge-Untersuchung für alle über 60“ gehören werde.
>>>Info: Der Immuno-Infrarot-Sensor-Test
Die Bochumer Forscher verstehen ihren Bluttest als „Plattformtechnologie“. Er funktioniert auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen. Die Arbeitshypothese im ProDi lautet: Alle diese Krankheitsbilder haben einen gemeinsamen Ursprung.
Zum Experten-Team der aktuellen Studie, die vom Land und der Deutschen Alzheimer Gesellschaft gefördert wird, gehören neben Prof. Klaus Gerwert und Julia Stockmann vom ProDi die RUB-Statistikerin Prof. Nina Timmesfeld, sowie eine niederländische Arbeitsgruppe.