An Rhein und Ruhr. Das Zusammenleben mit fremden Personen birgt viele Herausforderungen. Soziologieprofessorin Dr. Anja Weiß erklärt, worauf Helfer achten sollten.
Sie wollen helfen, bieten ihre Wohnung an und stoßen dann doch vor ungeahnte Probleme: Das Zusammenleben mit Unbekannten birgt viele Herausforderungen. Diese Erfahrung musste auch eine Familie aus der niederländischen Grenzstadt Nimwegen machen, die ukrainische Flüchtlinge bei sich aufgenommen hatte und schon nach kurzer Zeit zurück an die Stadt zurückvermittelte. Sie hätte es nicht mehr geschafft, so die Begründung der Familie. Eine Aussage, auf die Nimwegens Bürgermeister Hubert Bruls in der Zeitung „Algemeen Dagblad“ alles andere als begeistert reagierte: „Eigentlich geht das nicht. Man kann nicht einfach zur Gemeinde gehen mit der Nachricht: Es passt nicht mehr.“
Eine Anfrage unserer Redaktion bei mehreren Kommunen an Rhein und Ruhr zeigt jedoch: Auch hier haben Gastfamilien ukrainische Flüchtlinge bereits vereinzelt wieder zurückvermittelt – etwa in Düsseldorf und Duisburg. „Nicht alle Helfenden sind sich bewusst, was auf sie zukommt“, sagt Thorsten Schröder von der Stadt Moers. „Wir versuchen das bereits im Vorfeld zu klären, damit es nicht so weit kommt.“
Die Herausforderungen, die auf Helfer zukommen, sind vielfältig: Kleves Stadtsprecher Jörg Boltersdorf verweist auf die oft sehr beengten Wohnverhältnisse. Zudem stelle die Sprachbarriere „sicher ein großes Problem“ dar, sagt Tim Terhorst, Pressesprecher in Emmerich. Auch die Betreuung und Begleitung der Flüchtlinge gestalte sich schwierig, da es „allein mit der bloßen Unterbringung“ oft nicht getan sei. „Die anstehenden Behördengänge sind aufwendig und nicht immer barrierefrei, auch das kann natürlich zu gemeinsamem Frust führen“, so Silke Lenz von der Stadt Essen.
Bürokratie-Hürden: „Deutsche Gastgeber müssen Flüchtlinge überall hinbegleiten“
Dass vor allem die bürokratischen Hürden zur Last werden, weiß Maryna Schiefer. Die Ukrainerin ist Hauptkoordinatorin einer Sammelaktion für ukrainische Kriegsopfer in Düsseldorf und Ansprechpartnerin für ankommende Flüchtlinge. Asylformulare, Suche nach Kita-Platz oder Schule, Berufsmöglichkeiten, Deutschkurse, medizinische Versorgung – „das alles muss geklärt werden“, so die 36-Jährige. Doch kaum ein städtischer Mitarbeiter spreche ukrainisch. „Die deutschen Gastgeber müssen die Flüchtlinge überall hinbegleiten, fast überall sind die Infos andere.“
Sie selber hat bei sich zuhause zwei junge Frauen und eine Mutter mit einem drei Jahre alten Mädchen aufgenommen. „Das kleine Kind weint ab und zu. Das ist ungewohnt, aber ich habe dafür Verständnis.“ Die drei Frauen helfen im Haushalt, kümmern sich ums Abendessen, gießen die Blumen. „Mir wird sogar die Wäsche gewaschen“, erzählt Schiefer. Im Gegenzug kümmere sich die 36-Jährige um alle wichtigen Formulare. Auch einen Kita-Platz habe sie bereits besorgt.
Doch es sind nicht nur die Behördengänge, auf die sich Gastfamilien einstellen müssen. Auch das gemeinsame Wohnen kann zur Herausforderung werden. „Letztlich lebt eine fremde Person im eigenen Haushalt, allein das führt unter Umständen zu Reibungspunkten“, sagt Essens Stadtsprecherin Lenz. Ein gewisses Konfliktpotenzial gebe es aber nicht nur zwischen Unbekannten, erklärt Soziologieprofessorin Dr. Anja Weiß von der Uni Duisburg-Essen. Auch Menschen, die Familienmitglieder bei sich zuhause aufnehmen, müssten sich auf eine neue Wohnsituation einstellen: „Das Zusammenleben ist letzten Endes immer ein Ausprobieren.“
Professorin: „Gastgeber- oder Dankbarkeits-Verhältnis kann nicht ewig dauern“
Selbst jahrelangen Freunden oder Paaren falle es teilweise schwer, sich eine gemeinsame Wohnung zu teilen. „Deshalb sollten wir froh und dankbar sein, dass es Helfer gibt, die in dieser Krisensituation ein solches Wagnis eingehen“, so Weiß. „Und wenn es nicht funktioniert und die Leute ihre Gastfreundschaft beenden, sollten wir das trotzdem würdigen.“ Wichtig sei, rechtzeitig einen Schlussstrich zu ziehen, bevor sich auf beiden Seiten Verzweiflung ausbreite.
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Damit das Zusammenleben langfristig gelingen kann, sollten die Helfer klare Regeln aufstellen und Unstimmigkeiten offen ansprechen. „Soziologisch gesprochen geht es um Konfliktfähigkeit“, so Weiß. Es bringe nichts, aus Höflichkeit Probleme zu ignorieren. „Der größte Fehler zwischen Paaren oder Fremden passiert, wenn jemand irritiert ist und darüber nicht spricht.“ Zudem dürften die Flüchtlinge nicht auf Dauer als Gäste behandelt werden und müssten aktiv in den Haushalt mit eingebunden werden. „Dieses reine Gastgeber- oder Dankbarkeits-Verhältnis kann nicht ewig andauern.“
Bislang ist ein Großteil der ukrainischen Flüchtlinge in Privathaushalten untergekommen. In Essen wohnen laut Stadtangaben rund zwei Drittel, in Emmerich 95 Prozent der Geflüchteten bei Bekannten oder Gastfamilien. Doch das soll sich ändern: In Kleve hätten erste Flüchtlinge bereits eigene Wohnungen bezogen. In Essen, Emmerich und anderen Kommunen mieten die Verwaltungen Wohnraum an oder helfen bei der Vermittlung. „Uns ist bewusst, dass – je länger die Menschen nicht in ihre Heimat zurückkönnen – die Unterkunft bei privat nur temporär möglich ist“, so Lenz.