Essen. Eine große Familie sind die Beckmanns aus Essen ohnehin. Mit den Yurkivskas aus Kiew leben sie plötzlich zu zehnt.
Nur wegen Grigori sind sie in Deutschland gelandet, weil sie den alten Nachbarn nicht allein zu seinen Töchtern in Frankfurt reisen lassen wollten. „Ansonsten war es uns egal wohin, Hauptsache Ruhe, Hauptsache keine Bomben, keine Sirenen mehr“, sagt Natalia Yurkivska, die Mutter von Yuriy (13) und Daria (elf), die Tochter von Ivan (77), gelernte Stiefelschneiderin und Filialleiterin in einem Schuhgeschäft, bis vor zwei Wochen noch Bewohnerin eines Hochhauses im Kiewer Stadtteil Darnyzja mit seinen Stränden und Sporthäfen am Ufer des Dnjepr.
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Nach Essen hat es sie nun verschlagen, am Sonntag vor einer Woche kamen sie an nach fünf Tagen und Nächten in überfüllten Zügen und auf dem Boden einer Schule. Grigori, der als Geologe Erdölfelder in der Sowjetunion aufgespürt hat, heftete einen Zettel mit seinen Gedanken über den Unsinn des Krieges zwischen die uralten Ziegel des Oberwalleneyer Hofes wie an eine Klagemauer – ein symbolischer Akt, bevor ihn seine Töchter abholten. Erleichtert wankten Natalia, ihre Kinder und der Vater in ihr Zimmer. Ohne Angst, ohne Träume, ohne Gefühle schliefen sie ein.
Unten machten sich Helen und Johannes Beckmann schon Sorgen. „Alles knarzt dort oben, aber wir hörten zwölf Stunden lang einfach nichts“, sagt die 41-Jährige. Als die Gäste schließlich aufwachten, fanden sie sich in einem Kinderzimmer wieder, mit Bauernmöbeln, einem improvisierten Metallbett und einer Ausziehcouch. In der Idylle von Essen-Schuir, auf einem Hof mit mehr als 300 Jahren Geschichte, angedeutet in den Bildern an der Wand. Auf beiden Seiten der Familie gehört zur Tradition, was Tanja Hamzei, die Schwester von Helen, erklärt: „Dass man den Luftschutzbunker teilt, kennen wir aus vielen Geschichten. Dass man auch das Brot zu teilen hat.“
„Irgendwie glaubt man ja nicht, dass es so schnell real wird.“
Schon darum wollten die Beckmanns Gäste aufnehmen; Gäste, nicht Flüchtlinge. Aber auch, weil Krieg und Frieden Helens Forschungsfeld als Rechtswissenschaftlerin war, bevor sie sich als Lerncoach selbstständig machte. „Ich komme aus dem Kriegsrecht. Jetzt erlebe ich zuhause, was Krieg bedeutet.“ Die Beckmanns wollten nicht lange überlegen. Tatsächlich war Helen kurz davor, einen Rückzieher zu machen, als der Anruf kam von Jasmin Bähre, die für eine Privatinitiative Wohnraum organisiert. „Man glaubt ja nicht, dass es so schnell real wird.“ Und dann fragte Jasmin noch, ob auch vier Gäste möglich seien, keiner hatte Platz für so viele angeboten.
Die Pferdepension der Beckmanns ist zwar außen weitläufig, doch sie haben ja selbst vier Kinder und nur zwei Kinderzimmer. Jonathan (fast drei), Florens (fünf) und David (sieben) mussten also zu ihrer großen Schwester Liesbeth (neun) ziehen. Zudem sind Reitstall und Landwirtschaft ein Nebenerwerb, die Beckmanns arbeiten Vollzeit, Johannes als Gartenlandschaftsbauer. Es geht nur, weil so viele helfen. Nachbarn und Freunde bringen warme Mahlzeiten, Brennholz, Fahrräder, manch einer auch Geldgeschenke.
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Tanja Hamzei betreut als Unternehmensberaterin morgens ihre chinesischen, abends ihre amerikanischen Klienten und fährt mittags aus Mülheim zum Generalkonsulat in Düsseldorf, um die Papiere der Yurkivskas in Ordnung zu bringen. Wie so viele Geflüchtete haben sie noch keine biometrischen Ausweise. „Aber das Passamt in Kiew existiert nicht mehr, hat man mir nach dreieinhalb Stunden gesagt.“ Das Konsulat improvisierte eine Beglaubigung. Und seit Dienstag sind die vier ganz offiziell Essener.
Und immer schön geflochtene Haare
Ivan, der als Ingenieur 46 Jahre lang mit Satelliten gearbeitet hat, ist nun seine Brille zerbrochen. Wie gut, dass sich schon eine Optikerin angeboten hatte in dem Essener Hilfsnetz. Aber ach, es steht noch so viel auf dem Zettel: Augenarzt und Urologe, Impfung und Krebsmedikamente zur Nachbehandlung. Die Kinder „müssen nun zurückstecken“, sagt Helen Beckmann, „aber es fasziniert sie auch. Und Liesbeth ist froh, dass sie nun eine große Schwester hat.“ – „Und immer schön geflochtene Haare“, ruft Johannes.
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Natalia hat noch immer Ränder unter den Augen. Täglich telefoniert sie mit ihrem Mann Dmitri, der vor vier Wochen noch als Sicherheitsmann arbeitete und nun sein Handy daheim lassen muss, wenn er zu Einsätzen ausrückt, um nicht geortet zu werden. Wenn der Bombenalarm heult, bleibt er oben bei seiner Schwiegermutter Lydia, der Frau von Ivan. Sie ist so schlecht zurecht, dass sie es nicht mal in den Keller schafft. Noch sind die Fenster heil, Dmitri hat nun alle Familienfotos abfotografiert und nach Essen gesendet. Darüber haben sie lange gesessen. „Sie sehen, dass es einem auch das Herz zerreißt“, sagt Tanja. „Das ist das Gemeinsame.“
Daria und Yuriy lesen schon jetzt deutsche Kinderbücher
Die Trauer, sie gehört nun zum Alltag – immer wenn Yuriy etwas geschenkt bekommt, fängt er bitterlich an zu weinen. Aber große Freudenmomente ebenso – dass Yuriy nach zwei Tagen angefangen hat zu sprechen. Wie er, der Fan von Cristiano Ronaldo, beim Fußballtraining angekommen ist. Dass der Direktor des Grashof-Gymnasiums nicht gezögert hat, Daria und Yuriy aufzunehmen, noch vor ihrer Anmeldung bei der Stadt. Sie lesen schon jetzt deutsche Kinderbücher, wollen lernen. Am Donnerstag ist wahrscheinlich ihr erster Schultag. Es wird auch Darias zwölfter Geburtstag sein. Der erste in der Fremde. Aber in Gemeinschaft.