Essen. Sie bringen Spenden und retten Menschen aus dem Krieg. Dieser Hilfstransport startet in einem Essener Imbiss. Chronik einer zupackenden Aktion.

Es sind ungewöhnliche Posts, die die „Imbisserie Melandi’s – Gyros & Pizza“ zuletzt abgesetzt hat. Bilder und Videos von Panzersperren, Maschinengewehren, Flüchtlingen. Diese Pommesbude ist das Herz von Essen-Haarzopf, in Person von Tarkan – darum ist ein Aufruf, mit dem Jasmin Bähre nur ein paar Spenden sammeln wollte für eine andere Mutter aus dem Kindergarten, so groß geworden, dass sich am Freitag dreizehn Bullis und ein Laster vom Melandi’s aufgemacht haben in die Westukraine. Lieferservice bis nach Lwiw. Dorthin, wo wenig später die Raketen einschlagen sollten. Folgen wir diesem Hilfstransport über Facebook-Einträge und WhatsApp-Nachrichten.

Freitag

Babynahrung, Hygieneartikel, Schlafsäcke – im Melandi’s kamen Spenden zusammen, um 13 Bullis und einen Laster zu füllen. 
Babynahrung, Hygieneartikel, Schlafsäcke – im Melandi’s kamen Spenden zusammen, um 13 Bullis und einen Laster zu füllen.  © Privat

15.02 Uhr. Tarkan Yüzbasioglu (44): „Sollte reichen.“ Auf einem Ausdruck hinter der Frontscheibe steht „Hilfstransport“ – zwischen der deutschen und der ukrainischen Flagge.

20.07 Uhr. Marc Asshauer (48), Fertighausverkäufer und einer der freiwilligen Fahrer: „Nach etwas zähem Start im Ruhrgebiets-Berufsverkehr geht es jetzt gut voran. 150 km vor Dresden braucht der erste Wagen frischen Edelsaft aus dem Zapfhahn.“ Schon über diese Preise fühlt man sich mit der Ukraine verbunden. In den Kommentaren fragt einer, wer die Hilfsgüter entgegennimmt. „Eine ukrainische Hilfsorganisation“, antwortet Marc. „Die haben auch die Formalitäten geklärt, dass wir über die Grenze kommen. Und 28 Frauen und Kinder und Ältere ausgewählt, die wir dann mit nach Essen nehmen.“

Samstag

7.22 Uhr. Tarkan per Video: „Guten Morgen Leute. Minus sechs, sieben Grad. Bisschen kalt. Machen noch ‘ne kleine Pause, 15 Minuten bis zur ukrainischen Grenze. Hier sind ein paar englische Hilfstransporte. Dann gucken wir mal, was gleich los ist. Mensch, ist das kalt.“

8.07 Uhr. Marc (fühlt sich motiviert): „Wir warten auf Einlass. Auf der Nebenspur stehen Schlangen von LKWs.“ Die Straße Richtung Westen ist leer.

Vorbei an den Straßensperren in und um Lwiw. 
Vorbei an den Straßensperren in und um Lwiw.  © Privat

8.53 Uhr. Marc (fühlt sich traurig): „Schon ein etwas seltsames Gefühl. Von Leuten in Armeekluft wird man auch nicht so oft kontrolliert.“

9.00 Uhr. Daniel Reinhardt (47, Beamter, fährt mit Marc): „Die schauen im Wagen, ob Personen versteckt sind. Es kommen einem jetzt die ganze Zeit Gruppen von Frauen und Kindern entgegen. Ich habe wirklich einen Kloß im Hals.“

9.37 Uhr. Tarkan: „Wir haben alle unsere Pässe abgegeben. Die Hilfsbereitschaft der polnischen Soldaten ist unfassbar. Jedes Kind kriegt was Süßes, was zu trinken. Das bricht einem jetzt schon das Herz.“ Kurz darauf ein Foto von einem Grenzer mit Maschinengewehr vor einem Laster, auf dem steht „Open up possibilities“. Dann ein Foto von Menschen, die mit ihren Koffern vor dem Niemandsland warten.

13.28 Uhr. Marc: „Die Fahrt nach Lwiw war schon beklemmend. Die Dörfer schienen nahezu verlassen. An jeder Kreuzung bewaffnete Wachposten hinter Sandsäcken.“ Tarkan filmt Männer, die zügig ausladen, Paletten schleppen, Hubwagen fahren – sie wissen, dass es keine Minute zu vergeuden gibt.

Helfer erwarteten die Essener und luden die Spenden ab.
Helfer erwarteten die Essener und luden die Spenden ab. © Privat

14.13 Uhr. Daniel: „Ein Mann, der uns beim Abladen geholfen hat, hat uns seine Frau und seine zwei Kinder anvertraut, die wir mit nach Haarzopf nehmen sollen. Das ist nicht einfach zu verdauen. Trotz der Anspannung und der Verzweiflung, die hier herrscht, sind wir zum Essen in einem schönen Restaurant eingeladen worden. Das durften wir nicht ablehnen.“ Das Foto zeigt eine feine Tafel, zeigt Normalität. Es gibt Brot, Krautsalat, Kartoffeln, Soljanka.

16.57 Uhr. Tarkan: Ein Video von der Grenze, wo Stillstand herrscht, bis Tarkan kommt: „Hamm wir die Deutschlandflagge noch drauf?“ – „ Deutschlandflagge?“– „Na, das Hilfsdingen, der Zettel.“ – „Mach doch mal richtig.“ – „Is’ doch egal“, sagt Tarkan, „Hauptsache, das deutsche Dingens is’ drauf. Ist zwar Hilfstransport ohne s, aber hat eben ein türkischer Deutschsprachler geschrieben. Jetzt gib Gummi. Geradeaus bis zur Grenze.“ – „Bin ich dann Geisterfahrer, oder was?“ – „Ja, wir fahren Geisterfahrer. Fahr’ einfach durch. So wird dat gemacht. Wie in der Türkei, einfach geradeaus durch.“

17.37 Uhr. Tarkan: „Wenn wir könnten, würden wir noch mehr mitnehmen. Die ganzen Kinder und Mütter. Unfassbar.“ Im Video sagt Tarkan: „Guck mal, die Masse an Menschen, die da is’.“ – „Wie kommt man nur hier raus“ – „Um Gottes Willen, heute morgen war hier noch nix.“ Alle 15 Meter haben die Menschen ein Feuer angezündet, berichtet er später. „Die innen bleiben warm, die außen können sich nur anschmiegen.“ Tarkan wird nach 14 Stunden Fahrt herausfinden, dass er sich mit einem Passagier auf Türkisch verständigen kann. Der sagt: Wer an der Grenze seinen Platz verlässt, hat ihn verloren. Selbst wenn er auf Toilette muss. Also macht man, wo man muss.

Lwiw war eine Insel relativer Normalität, bevor auch hier die Raketen einschlugen. Die Helfer wurden zum Essen eingeladen. 
Lwiw war eine Insel relativer Normalität, bevor auch hier die Raketen einschlugen. Die Helfer wurden zum Essen eingeladen.  © Privat

17.48 Uhr. Daniel: „Wir sind zu acht im Auto, es ist etwas eng, aber das ist sowas von scheißegal, denn wir nehmen eine Mutter mit zwei Kindern, den 82-jährigen Opa und einen weiteren älteren Mann sowie einen Jungen von zwölf Jahren mit nach Essen. An der Grenze stehen aber noch tausende und warten, dass sie wegkommen. Mütter, Kinder und Alte. Es ist saukalt und keiner weiß, was auf ihn zukommt.“ Marc: „Auch unsere Mitfahrer mussten alle Angehörige in Kiew zurücklassen! Allein für diesen Horror gehören Putin & Co nach Den Haag!“

19.07 Uhr. Daniel: „Wir sind nach 2,5 Stunden an der Grenze durch. Die Jungs tauen langsam auf, und wir radebrechen ein bisschen über Fußball. Ein Junge ist Barcelona-Fan und findet Ronaldo toll. Aber er ist der einzige, der ein paar Brocken Englisch kann. Wir fahren erstmal einen Rasthof an.“ Hier treffen sich fast alle wieder. Eine Frau fängt an zu weinen. Eine andere lacht, dann erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Ein Junge wird sich auf der Fahrt dreimal übergeben.

20.10 Uhr. Tarkan hängt noch an der polnischen Grenze fest: „Ich hab’ jetzt gesagt, dass ich das türkische Konsulat anrufen will. Wir kommen um zu helfen, und jetzt sitz’ ich seit anderthalb Stunden in so’nem kalten Kackraum wie ein Terrorist. Nur weil ich‘n türkischen Ausweis habe?“ Wenig später: „Ich glaube, jetzt nehmen sie den Wagen noch auseinander, nachdem sie uns die Ausweise fünfmal kontrolliert haben.“ Aber es geht weiter.

Sonntag

6.32 Uhr. Marc (fühlt sich schrecklich): Ein Foto der Morgenröte. Daneben ein Screenshot mit Nachrichten. „+++05.51 Explosionen im westukrainischen Lwiw +++“ Russische Raketen haben eine Militäreinrichtung zerstört, an der der Konvoi aus Essen am Vorabend vorbeigefahren ist, keine 500 Meter.

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Tarkan kommentiert: „Denke, dann wären wir nicht so schnell draußen gewesen. Was machen die Menschen, die wir dort gesehen haben?“

8.44 Uhr. Tarkan: „Als ich dem Aserbaidschan-Ukrainer erzählt habe, dass jetzt alles sicher ist, und die sich keine Sorgen machen müssen, ist er mir in die Arme gefallen und hat angefangen zu weinen.“

Um 12 Uhr rollt der Konvoi auf den Supermarktparkplatz in Haarzopf. Die Gastfamilien warten schon, alle 28 UkrainerInnen kommen privat unter, das war den Organisatoren um Jasmin und Matthias Bähre ein Anliegen. Doch zuvor geht’s ins Melandi’s, Pizza, Gyros, Grill – zum Hier-Essen bitte.

Nachtrag

16.11 Uhr. Daniel: „Ich bin eigentlich kein Weichei, habe aber schon wieder Tränen in den Augen. Gestern Abend Tausende von Menschen (Mütter, Kinder, vereinzelnd Omas und Opas) gesehen, die vor der Grenze standen in einer Eiseskälte. Und bei der Anzahl werden sie wohl jetzt noch da stehen. An diesen Menschen fährt man vorbei und sieht ihre bittenden Blicke, sie mitzunehmen, und man weiß, dass es nicht geht, da man den Wagen schon voll hat. Dann hat Putin gestern noch die letzte Bastion der Zuflucht bombardiert, eine Weile davor sind wir da durchgefahren. Und dann Natalia mit Ihren zwei Kindern und dem Opa die bei mir mitgefahren sind.

Stau an der Grenze.
Stau an der Grenze. © Privat

Ihr Sohn (13 Jahre) konnte ein wenig englisch und hat mich gleich so freundlich und höflich begrüßt, dass ich da schon die Sonnenbrille aufsetzen musste. Die vier kommen aus Kiew und sie mussten den Mann und die Oma zurücklassen. Die Mutter wollte nicht mit. Der Opa auch nicht, aber er hat gesundheitliche Probleme, die in der Ukraine nicht mehr behandelt werden konnten. Da standen sie, als wir sie aufgenommen haben, mit Ihren vier kleinen Rucksäcken.

Alle konnten sie kein deutsch und nur der Sohn ein wenig englisch und ich kein ukrainisch. Natalia war sehr zurückhalten, wie ihre Tochter und der Opa. Im Lauf der langen Fahrt aber haben wir uns mit Händen und Füßen und wie auch immer ganz toll unterhalten. Ich habe mich bei ihr bedankt, dass ich so eine tolle Familie kennenlernen durfte, worauf sie sehr geweint hat, weil sie es kaum verstehen konnte, weshalb man ihnen helfen möchte, aber auch wegen denen, die zurückbleiben. Ihr Mann wollte mich dann auch noch sprechen. Als er am Telefon war, bedankte er sich unzählige Male, dass wir seine Familie mitnehmen.

Das sollte jetzt nicht kitschig klingen, aber das ist es, was von diesem Wochenende bleiben wird. Und wegen Natalia, Ihrer Familie und tausenden von anderen, die noch an der Grenze stehen oder aus den Städten nicht rauskommen, muss und möchte ich noch mal fahren. Danke.