Gelsenkirchen. 1972 triumphierte Schalke 04 im DFB-Pokal. Mittendrin: Reinhard „Stan“ Libuda. Der Stürmer erlebte im Finale den Höhepunkt seiner Karriere.
Der Platz vor dem alten Gelsenkirchener Bahnhof war pickepackevoll, die Menschen schoben sich durch die Straßen der Innenstadt, um einen Blick zu werfen auf ihre Helden und eine goldene Trophäe, die aus Hannover mitgebracht worden war. Mit einem triumphalen 5:0 im Endspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern hatten die Spieler des FC Schalke 04 am 1. Juli 1972 den DFB-Pokal gewonnen, jetzt ließen sie sich feiern.
Mittendrin ein verlegen lächelnder Reinhard Libuda, den alle nur Stan nannten, weil er die Tricks der britischen Dribbel-Legende Sir Stanley Matthews beherrschte. Links antäuschen, rechts vorbeiziehen – die Gegenspieler wussten, dass Schalkes Rechtsaußen das irgendwann machen würde, aber sie wussten nicht: wann. An guten Tagen narrte er auf diese Weise ganze Abwehrreihen. Wie in jenem Pokalfinale vor 50 Jahren im Niedersachsenstadion.
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Nun stand er da vor all diesen Menschen, die das Team euphorisch empfingen, und wusste nicht wohin mit seinen Gefühlen. Die Leute riefen immer wieder seinen Namen, er war schon damals eine Schalker Kultfigur, ein Junge aus Gelsenkirchen, genauer: aus Bismarck, noch genauer: aus dem Haverkamp. Einmal hatte er Schalke schon verlassen, 1965 war das, als auch er dachte, Schalke sei abgestiegen – bevor der DFB dann die Bundesliga auf 18 Vereine vergrößerte. Stan wechselte nur ein paar Kilometer weiter zum BVB, aber für ihn war Dortmund schon Ausland. Drei Jahre lang spielte er für die Borussia, er schoss sie 1966 sogar zum Europapokalsieg, aber richtig heimisch wurde er bei den Schwarz-Gelben nie.
Jetzt musste er wieder gehen, gezwungenermaßen. Denn über diesem spielstarken Schalker Team, das ganz knapp hinter dem FC Bayern Vizemeister wurde und sich immerhin mit dem DFB-Pokal trösten konnte, schwebten ganz dunkle Wolken. Der Bundesliga-Bestechungsskandal von 1971 beherrschte die Schlagzeilen, immer mehr Details kamen ans Licht, und die Schalker steckten nach ihrem verkauften 0:1 gegen Bielefeld mittendrin im Schlamassel. Auch der Stan. Das 5:0 gegen Kaiserslautern, bei dem er noch mal seine ganze Kunst vorgeführt hatte, war sein vorerst letztes Spiel für Schalke. Dem damals 28-Jährigen stand ein Wechsel zu Racing Straßburg bevor, die Flucht nach Frankreich vor dem DFB, der bereits erste drakonische Strafen verhängt hatte. „Ich muss ehrlich sagen: Ich bin ein bisschen traurig“, sagte er im Interview zwischen all den Feiernden. „Ich kann auch nichts daran ändern, ich finde mich damit ab.“
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Nur so konnte Stan Libuda weiter Fußball spielen, glücklich aber wurde er dabei nicht mehr. Die Glückauf-Kampfbahn war einfach zu weit weg, und außerdem belastete ihn die Scham. „Dass ich da überhaupt mitgemacht habe“, sagte er zwei Jahrzehnte später leise und verzweifelt. „Dabei wollte ich das doch gar nicht.“ Der DFB sperrte ihn im September 1972 auf Lebenszeit, zwei Jahre später wurde er begnadigt, er spielte dann noch 15-mal für Schalke. Aber nie mehr so gut wie im Pokalfinale gegen Kaiserslautern.
Die Schalker kombinierten sich in einen Rausch, und Stan Libuda, dem Formschwankungen nicht fremd waren, hatte einen Glanztag. „Es war einfach toll, dass wir den Stan in unserer Mannschaft hatten und mit ihm spielen durften“, schwärmt Helmut Kremers, heute 72 Jahre alt und damals mit zwei Toren als Außenverteidiger auch einer der Leistungsträger der Pokalsieger-Elf.
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Diese Mannschaft wird bis heute als eine der spielstärksten der Schalker Vereinsgeschichte angesehen, und kaum jemand zweifelt daran, dass ihr eine große Zukunft bevorgestanden hätte, wenn der Skandal und seine Folgen nicht alles zerstört hätten. Acht Schalker Spieler, darunter auch Stan Libuda, entgingen nur knapp Gefängnisstrafen – sie hatten vor Gericht geschworen, kein Geld aus Bielefeld kassiert zu haben. Sie hatten Angst vor lebenslangen Sperren, deshalb wurde ihnen schließlich Eidesnotstand zugebilligt. „Wäre der Skandal nicht gewesen, wären wir 1972 Meister geworden“, meint Klaus Fichtel, heute 77, damals umsichtiger Abwehrchef. Aber sie waren zu unruhig, zu abgelenkt, zu besorgt.
Norbert Nigbur, der sprungstarke und reaktionsschnelle Torwart, hatte 1971 gegen Bielefeld wegen einer Verletzung gefehlt – und doch hat der Skandal auch ihm einen großen Traum zerstört. „Wäre diese Mannschaft noch drei, vier Jahre zusammengeblieben, wären wir garantiert auch Meister geworden“, sagt der heute 73-Jährige. Und auch er hebt einen Spieler hervor: „Wenn ich allein an unseren Kapitän Stan Libuda denke – was der im Eins-gegen-Eins drauf hatte, war unvergleichlich.“
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So behielten auch die Fans Stan Libuda in Erinnerung: als Spielführer jener großen Mannschaft, als Trickser am Ball. Er selbst aber bejubelte sich nicht, er sah sich nicht als Kultfußballer. Er konnte es sich nie mehr verzeihen, am Skandal beteiligt gewesen zu sein, darunter litt er sehr. 1996 starb Reinhard Libuda, viel zu früh, mit nur 52 Jahren.
Die Pokalsieger-Mannschaft von 1972 hatte einen eigenen Schlachtruf: „Horvat, lass die Löwen los!“ brüllten die Fans des FC Schalke 04, wenn die Königsblauen in jener Saison groß aufspielten. Es war auch eine Form der Anerkennung für den Architekten des Teams: Der Jugoslawe Ivica Horvat war nicht nur Trainer, sondern auch Spielerversteher. „Er war eine Vaterfigur und ein Fachmann“, sagt Helmut Kremers, der vor der Saison gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Erwin aus Offenbach gekommen war und die Schalker entscheidend verstärkt hatte.
Im Pokal-Endspiel von Hannover musste Trainer Horvat auf seinen Spieler Jürgen Sobieray verzichten, den der DFB wegen erdrückender Verdachtsmomente im Zuge des Bundesliga-Bestechungsskandals kurz vor Saisonschluss aus dem Verkehr gezogen hatte.
Und so schickte Horvat in Hannover folgendes Team ins Rennen: Norbert Nigbur, Hartmut Huhse, Rolf Rüssmann, Klaus Fichtel, Helmut Kremers, Herbert Lütkebohmert, Heinz van Haaren, Klaus Scheer, Reinhard Libuda, Klaus Fischer, Erwin Kremers. Der Trainer sah auch keinen Grund für Wechsel, seine Elf ließ Kaiserslautern keine Chance. Helmut Kremers (13. und 82.), Klaus Scheer (32.), Herbert Lütkebohmert (57.) und Klaus Fischer (66.) besorgten die fünf Tore an einem perfekten Schalker Tag.
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