Oberhausen. Ein Gymnasium in Oberhausen thematisiert den Krieg sehr offensiv. Das ist emotional anstrengend, aber den Schülern vermittelt es Gemeinschaft.

Schon in der letzten Politikstunde vor dem Krieg hat Lina Kindermann ihren Schülern das zerbombte Oberhausen gezeigt. Ein Schwarzweißbild, abstrakt geworden durch die vergangenen Jahrzehnte. „Was würdet ihr mit auf die Flucht nehmen, wenn ihr fünf Minuten Zeit hättet?“, hat sie gefragt. Und in der achten Klasse, mit 13 oder 14 Jahren, antwortet der eine oder die andere noch: „das Kuscheltier“. Und Fotos. Jemand dachte sogar an Schulzeugnisse. Um die Ukraine ging es nur am Rande, Migration stand auf dem Lehrplan. Und nun, in der ersten Politikstunde nach Ausbruch des Krieges, muss Lina Kindermann sagen: „Die ersten 50 Flüchtlinge sind schon in Oberhausen. Bald bekommen wir die ersten Schüler.“

„Kriegen wir auch welche?“

„Da wir 31 sind, glaube ich nicht, dass wir die erste Klasse sind.“

Kriegsnachrichten im Schulfoyer

„Die Waffen nieder!“, war das Motto (und ein Buchtitel) der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die dem Gymnasium im Oberhausener Knappenviertel seinen Namen gab.
„Die Waffen nieder!“, war das Motto (und ein Buchtitel) der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die dem Gymnasium im Oberhausener Knappenviertel seinen Namen gab. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Das Bertha-von-Suttner-Gymnasium in der Nähe des Centro empfängt seine Besucher mit Bannern am Eingang: Die Waffen nieder!“, steht darauf – das Motto der namensgebenden Friedensnobelpreisträgerin. Die Stimme eines Tagesschaureporters hallt durchs Foyer, die Schüler sollen auf dem aktuellen Stand sein. Stellwände zeigen „Impressionen aus unserer ukrainischen Partnerschule, dem Gymnasium Nr. 46“ in Saporischschja. Genau, die Stadt mit dem umkämpften Atomkraftwerk. Die Klassenräume, die Mensa, die Menschen könnten in Oberhausen fotografiert worden sein, nur präsentiert das Schulmuseum hier keine Waffensammlung.

Die letzte Mail vom Gymnasium 46 – die Schulen sind durchnummeriert – kam vor drei Tagen. Sie hätten schon eine ganze Weile Distanzunterricht gemacht, doch nun, schrieb Schulleiterin Ludmila Krugla, seien die Lehrer an die Schule zurückgekehrt, um Panzersperren auf den Schulhof zu installieren, die Fenster mit Paketband zu verkleben und um Äste auf dem Flachdach auszulegen, damit die Bomber es womöglich etwas schwerer haben.

Diffuse Ängste bei den Kleinen

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Von Tobias Blasius und Matthias Korfmann

Direkt nach dem Überfall haben Lina Kindermann und ihre Kollegen in den Pausen in der Aula gestanden und Fragen beantwortet. „Bei den Kleinen gab es mehr diffuse Ängste, weil Wissen fehlt.“ In vielen Fächern haben die Lehrer das Thema angesprochen und mit Nachrichtenbeiträgen erklärt, dass ein Krieg bei uns doch unwahrscheinlich ist. Auf Demos waren die Schüler, Friedenstauben haben sie gemalt und ausgeschnitten. „Sie müssen das kanalisieren“, sagt Kindermann – und plötzlich sieht man Jugendliche, die ihre Pausen damit verbringen, Papiervögel anzupinnen.

Das NRW-Schulministerium hat in der vergangenen Woche eine Materialsammlung verschickt, doch Lina Kindermann will so aktuell wie möglich unterrichten. Sie hat selbst Fotos und ein Quiz zusammengestellt: „Wie weit sind Deutschland und die Ukraine voneinander entfernt?“ – 2000 Kilometer, die erste, 1000 die zweite, 700 zum dritten. „Wozu gehörte die Ukraine bis 1991?“ Was die Sowjetunion war, ist eigentlich Stoff fürs nächste Jahr, aber doch nicht mehr unbekannt. Und wo wir schon mal nach den Nachbarländern fragen, warum macht man sich in Moldawien mehr Sorgen als in Finnland, obwohl beide nicht in der Nato sind? Stichwort „russisches Imperium“.

Zu groß für die Logo-Nachrichten

Vor allem mit aktuellen Bildern und Videos arbeitet Lina Kindermann in der 8a, um Wissen zu vermitteln und ins Gespräch zu kommen.
Vor allem mit aktuellen Bildern und Videos arbeitet Lina Kindermann in der 8a, um Wissen zu vermitteln und ins Gespräch zu kommen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

„Wenn es euch zu viel wird, geht ruhig raus“, warnt Lina Kindermann ihre Schüler. Sie will nun Reportagen zeigen, in denen zum Beispiel ein achtjähriges Mädchen erzählt, wie es sich vom Vater verabschiedet hat. „Da hatte ich auch Tränen in den Augen, sagt die Klassenlehrerin. „Aber ihr seid nicht mehr in der Sechs und habt selbst gesagt, dass ihr zu groß seid für die Logo-Nachrichten.“ Still wird es in der Klasse, einige schauen leicht schräg auf die Projektion, als unterdrückten sie den Reflex, sich abzuwenden. Es sind nur Menschen, die dort berichten, keine Kriegsbilder. Ein Junge wischt sich unauffällig über die Augen. Ein anderer fragt Lina Kindermann nachher, was an dem Video schlimm gewesen sein soll.

Dann rekapitulieren sie: „Die Menschen schlafen seit neun Tagen nicht mehr richtig.“ – „Wenn die Zivilisten rausgehen, haben die Russen mehr Freiraum, alles kaputt zu machen.“ – Ich finde, das Mädchen ist sehr erwachsen damit umgegangen, dass es den Vater vielleicht nie wiedersieht.“

Eine ständige Gratwanderung

Der Unterricht, sagt Kindermann, sei eine Gratwanderung. „Wir wollen ja Betroffenheit erzeugen. Aber dann müssen wir wieder auf die Sachebene kommen.“ Die Schüler sagen, ihnen tue es gut, auf dem neuesten Stand zu sein. Aber bald, denkt Kindermann, müsse man die Nachrichten im Foyer auszuschalten, um Distanz zu schaffen.

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Und die Jugendlichen haben ja alle die Antworten der ukrainischen Lehrer und Schüler mitbekommen: Die Bilder von den Demos und eure Friedenstauben, sie geben Hoffnung, schickt uns mehr davon. Sie alle wissen, dass ein Mädchen aus der Neun um seine Familie in der Ukraine bangt. Die Großeltern und die Tante sind nun in Oberhausen, aber was ist mit dem Onkel? Und dass die Familie von Johannes, der wie seine Schwester in Saporischschja war, die ehemalige Austauschschülerin Valeria (20) und ihre Oma Olga (70) aufgenommen hat, spricht sich auch rum. „Vor drei Tagen kam ihr Zug in der Nacht an. Sie waren viereinhalb Tage unterwegs gewesen ohne Essen, ohne Trinken. Die Eltern sind in der Ukraine geblieben. Das ist schon schlimm.“

„Hier spricht man über den Krieg“, sagt Ella (14). „Man hat das Gefühl, dass alle Bescheid wissen und dass wir darum alle gemeinsam etwas tun können ... Man kann ja nicht direkt mit Putin reden. Aber man fühlt sich besser, wenn man auf einer Demo sich selbst gezeigt hat: So geht es nicht.“