Gelsenkirchen. Marmorkuchen und Möhrendurcheinander: In Gelsenkirchen haben Menschen mit Demenz ihre besten Rezepte zusammengetragen – und sich erinnert.

Man kann das Essen schon mal vergessen, im Alter. Aber nicht hier: wo der Duft von Lieblingsgerichten aus der offenen Küche in jedes Zimmer zieht und mit dem Appetit auch Erinnerungen weckt. In ihren Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz haben die Ambulanten Pflegedienste Gelsenkirchen (APD) Rezepte gesammelt, „die man nie vergisst“ – und daraus ein Kochbuch gemacht. Sogar mehr als das: Hinter jeder Mahlzeit steckt eine wiedergefundene Lebens-Geschichte.

Eine Schürze bräuchte Günter Dultz jetzt, „und eine Kochmütze“! Dabei sind da nicht mehr viele Haare, die in die Pfanne fallen könnten, und der 85-Jährige hat sich doch auch ohne Schürze schick gemacht: Zum rosa Hemd haben sie ihm geraten, heute geht es um Dultz und sein Rezept, Seite 66 in den „Aromen des Lebens“, Kapitel „Vegetarisch“. „Plinsen zum Zerruppen“ steht da, was soll das denn bitte sein? Das Personal muss schon wieder lachen, Herr Dultz grinst, als wenn er das nicht wüsste: „Wie nennt denn ihr das hier?“

Früher übernahm das „Zerruppen“ seine Frau, heute packt Günter Dultz selbst mit an. Links Autorin Silke Verlage, rechts Alltagshelferin Daniela Manthey, die für Dultz’ Gelsenkirchener Wohngemeinschaft kocht.
Früher übernahm das „Zerruppen“ seine Frau, heute packt Günter Dultz selbst mit an. Links Autorin Silke Verlage, rechts Alltagshelferin Daniela Manthey, die für Dultz’ Gelsenkirchener Wohngemeinschaft kocht. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Tischgespräche trainieren das Gedächtnis

Hier gar nicht, in Gelsenkirchen kennt man das Gericht aus Österreich: Günter Dultz meint Kaiserschmarrn. Und er meint Sachsen, wo er herkommt (was man hört), er meint die Berge, wo sie oft Urlaub machten, er meint „diese flachen Pfannkuchen“, die zuhause Plinsen heißen und die seine Frau mit zwei Gabeln zerriss. „Daran muss ich heute noch denken“, ist er im Kochbuch zitiert, unter „Zutaten“ und „Zubereitung“.

Und darum geht es: dass sich die Menschen erinnern, zurückbesinnen durch das Essen. Dass sie Appetit bekommen, weil etwas nach früher riecht. Und dass sie darüber reden. Da sind die Alten ja nicht anders als die Jungen, die dauernd ihren Teller fotografieren: Sie kommen bei Tisch ins Gespräch, erzählen von damals, stecken die WG-Nachbarn an. Die kichernd daran denken, wie sie Äpfel klauten für Mutters Apfelmus, wie der Vater Schweine schlachtete auf dem elterlichen Hof, wie die Kartoffelsuppe wärmte in kargen Zeiten nach dem Krieg. Sie erzählen von der Currywurst im Stadion oder vom Strammen Max auf der Kegelbahn. (Oder dem Toast Hawaii, den gab’s für die Damen.)

Erinnerungen an Grünkohl und Erdbeerbowle

Apfelpfannkuchen: Das weckt Erinnerungen an Kletterpartien auf den Baum im Garten.
Apfelpfannkuchen: Das weckt Erinnerungen an Kletterpartien auf den Baum im Garten. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

So gehört zu jedem mit liebevollen Zeichnungen versehenen Rezept auch eine Erinnerung. An Hühnersuppe (Hildegard, 78), Arme Ritter (Gisela, 75), Erdbeerbowle (Gertrud, 87). An Grünkohl (Hans, 79), Heringsstipp (Arnold, 85) oder Frikassee (Hans, 88). An Stielmus, Kohlrouladen und Möhrendurcheinander. Was sind die Bewohner ins Erzählen gekommen, als die APD-Mitarbeiterinnen Silke Verlage und Anita Benedito sie nach ihrem Lieblingsessen fragten! Was gab das Gedächtnis nicht auf einmal wieder frei: Wie Oma Eintopf kochte, wie zu Ausflügen immer Frikadellen mit mussten, wie schön das Muster im Marmorkuchen doch ist… „Erinnerungen zum Nachkochen“, schrieben die Autorinnen als Untertitel auf ihr Buch.

Günter Dultz erinnert sich auch an die Kartoffelsuppe, die er selbst einmal ansetzte für Hunderte Mitarbeiter der Brauerei, in der er arbeitete. (Die Rezepte im Buch sind „nur“ für acht Personen.) Es gibt der Kartoffelsuppen gleich drei in der Sammlung, die von Dultz ist „mit Würsten“, und sie hat „allen geschmeckt – und mir ganz besonders“. Auch seine Plinsen haben die Alltagshelferinnen erst einmal ausprobiert, aber, sagt der 85-jährige Ideengeber verschmitzt: „Ist keiner kaputtgegangen nach dem Genuss.“ Inzwischen ist nicht nur für ihn der Plinsen-Tag ein „Feiertag“.

Sonst zittern die Hände, aber Kartoffeln Schälen können sie

Wenn es danach riecht in der WG oder nach anderen Leckereien von früher – und es riecht hier immer nach Essen, auf jeder Etage anders, weil sie bewusst auf Dunstabzugshauben verzichten – dann kommen die Menschen schon früher an den Tisch, in froher Erwartung. Sie müssen in ihrer Demenz nicht mehr wissen, wie das Lummerkotelett heißt, aber an seinem Duft werden sie es erkennen. „Sie riechen es und freuen sich“, sagt Silke Verlage. Oder sie machen sogar mit, was so gut ist wie jede Ergotherapie: Sonst zitternde Hände können auf einmal das Pittermesser halten, erzählen die Conciergen, die hier kochen, und fein die Kartoffeln schälen, das können sie alle. Oder Gurken schneiden, „so filigran“!

Günter Dultz gibt gern auch etwas ab.
Günter Dultz gibt gern auch etwas ab. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Und was sie sich gewünscht oder gar selbst zubereitet haben, das essen sie auch. „In letzter Zeit“, fragt Günter Dultz etwas unsicher, „habe ich doch alles gegessen?“ Er gibt zu, er hat sich schwer getan zu Anfang in Gelsenkirchen. Und manches kritisiert. „Wenn’s dir nicht schmeckt“, wie oft hat seine Tochter ihn ermahnt, „halt die Gosch!“ Aber so ist er nicht, der Günter. Der hat es gern „schön gewürzt“, Salz muss dran, Kümmel oder Bohnenkraut. Also, nicht an den Kaiserschmarrn, aber das liegt natürlich auch am Alter: Die Geschmacksnerven wollen nicht mehr so, der Kopf vielleicht auch nicht. Der „deutsche Dreiklang“ – Gemüse, Kartoffeln, Fleisch – kann eine Überforderung sein. „Aber Süß geht immer“, weiß Alltagshelferin Daniela Manthey.

Günter Dultz gibt freundlich Anweisungen

Die darf die Pfannkuchen heute anrühren, aber an der Pfanne greift Günter Dultz schnell ein. „Ich würd’s jetzt schon...“, überlegt Daniela Manthey, aber Dultz hätte den Teig gern braun: „Wir warten noch ein bisschen!“ Das Zerruppen übernimmt heute er, jeder will ein Foto davon machen, Herr Dultz am Herd! „Da komm ich ins Schwitzen“, klagt die Köchin amüsiert, „und ich ins Schwärmen“, sagt ihr Küchenhelfer. Und dann darf er den ersten Happen probieren und hört gar nicht mehr auf. So gut, die zerruppten Plinsen. Strahlend verteilt der 85-Jährige eine Gabel an „die Daniela“, eine an Frau Verlage, wer will noch mal, wer hat noch nicht? „Man wird da nicht dick von“, behauptet er. „Aber freundlich.“

>>INFO: DAS KOCHBUCH

Aromen des Lebens. Rezepte, die man nie vergisst. Erinnerungen zum Nachkochen.“ Zusammengestellt von Silke Verlage und Anita Benedito. Abbildungen von Anja Weiss. 2022, 120 Seiten.

Das Kochbuch ist bei der APD Ambulante Pflegedienste Gelsenkirchen GmbH gegen eine Schutzgebühr erhältlich. Die Rezeptsammlung kann unter Telefon 0800 9230500 (gebührenfrei) oder info@apd.de bestellt werden. Mehr Informationen: www.apd.de

Günter Dultz’ Rezept für „Plinsen zum Zerruppen“

„Aromen des Lebens“: Die Zeichnungen steuerte Anja Weiss bei.
„Aromen des Lebens“: Die Zeichnungen steuerte Anja Weiss bei. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

(für acht Personen)

250 Gramm Mehl, 60 Gramm Zucker, 2 Päckchen Vanillezucker, 8 Eier (getrennt), 750 Milliliter Milch, 60 Gramm Rosinen, 80 Gramm Butter, 1 Prise Salz, Puderzucker

Eigelb, Salz, Zucker und Vanillezucker schaumig rühren, Milch hinzufügen, nach und nach das gesiebte Mehl einrühren und Rosinen zugeben. Eiweiß steif schlagen und vorsichtig unterheben. Butter in der Pfanne erhitzen, Teig bei schwacher Hitze von beiden Seiten goldbraun anbraten. Mit zwei Gabeln den Teig zerreißen, auf einem Teller anrichten, mit Puderzucker bestäuben