Das ganz normale Leben in einer Demenz-Wohngemeinschaft: So viel Alltag wie möglich hält die sieben Sinne von sieben Menschen zusammen. WAZ-Reporterin Annika Fischer verbrachte eine Woche in der „Villa Nestor“.
„Wie alt bin ich eigentlich? 98? Echt? Boah. Wer hätte dat gedacht.“
Margarethe Sonnenschein ist jedes Mal wieder ehrlich erstaunt über ihr Alter, manchmal alle drei Minuten. Dann wendet sie ihren Rollator auf dem Flur, kommt zurück in die Küche, wo sie gerade erst war, und jeder weiß schon, was sie fragt mit ihrer hohen Stimme: „Wie alt bin ich noch mal?“ 98, Sonnenschein. Wann bist du denn geboren? „29. 4. 17.“ Das kommt wie aus der Pistole geschossen. „Siehst aber wie 70 aus“, sagt Conny.
Conny Kampka ist Pflegerin in diesem Haus und mehr als das: Sie ist die Seele und das Herz. Und sie ist seine Stimme: laut, rau, aber lieb. Wahrscheinlich war sie es, die damit angefangen hat, einfach „Sonnenschein“ zu rufen; alle tun das hier, Pflege, Hauswirtschaft, die Mitbewohner auch. Manchmal sagen sie sogar „Sonnenscheinchen“ – und meistens ist sie ja einer. Wenn ihr alles passt und die Augen nicht brennen. Das tun sie oft. „Meine Augen werden nicht mehr besser, ne?“, fragt Frau Sonnenschein mit fast blindem Blick, gerichtet immer nach rechts oben. „Nein, Sonnenschein, aber auch nicht schlechter.“ Drei-, viermal will die alte Dame das wissen und was die Uhr sagt: Um sieben werden die Augen getropft. „Das bleibt so? Dann muss ich wohl zufrieden sein.“
Auch interessant
Deshalb also wohnt Frau Sonnenschein in der „Villa Nestor“: „Wegen meiner Augen!“ Hermine Kirschner, 88, ist hier, „damit ich wieder gesund werden soll“, sie war kürzlich ernsthaft krank. Niemand würde innerhalb dieses grau verschieferten Bungalows in Mülheim laut sagen, was er ist: eine Wohngemeinschaft für Demenz-Erkrankte. „Demenz-WG“, das klingt ja schon wie eine Diagnose! Nestor aber, der alte Grieche, der war ein Held und bekannt für seine Weisheit. Dass ihr Haus nach ihm heißt, wissen die Sieben, die hier wohnen. Alt sind sie auch. Und weise?
„Ich hab’ mein Gehirn noch in Ordnung!“
Ruth Sandkühler, 79, behauptet das jedenfalls. Und Erika Radberg, 74, sagt es etwas umständlich so: „Es hat jemand gemeint, dass ich allein nicht mehr zurechtkommen sollte. Ich finde aber, wohl.“ Es wäre da außerdem Hans-Jürgen Scheiffert, der dazu eine Meinung haben könnte, er hat zu allem eine. Aber der ist wirklich nicht dement. Jedenfalls steht nichts davon in seiner Akte. Es ist nur so, dass „Jürgen“ einen Unfall hatte und ein Blutgerinnsel im Kopf und seitdem Dinge vergisst oder andere versteckt.
An diesem Morgen, einem Montag, ist Herr Scheiffert zum Supermarkt gegangen, er macht das täglich und darf das auch, weil er den Weg zurück noch findet. Diesmal aber hatte er einen Auftrag: „Berliner sollte er mitbringen“, hat Conny gesagt. Einmal kam Herr Scheiffert zurück, weil er nicht mehr wusste, wie viele. Beim zweiten Mal brachte er statt Berlinern Brötchen. „Was soll ich mit zehn Brötchen?“, hat sich Conny aufgeregt und ein bisschen geschimpft. Sie hatten ja nun nichts zum Kaffee, aber natürlich weiß sie: „Das darf ich nicht. Der Jürgen fühlte sich ertappt, und das macht ihn sauer.“ Fachlich gesehen sollten Demenz-Pfleger vermeiden, auf Defizite hinzuweisen. „Aber das“, sagt Conny, „kannste auch nicht immer.“
„Hahn im Korb? Kann sein. Aber die Hühner hier sind mir zu alt.“
Herr Scheiffert ist dann auf sein Zimmer gegangen im Souterrain, er tut das immer, wenn er „das Durcheinander“ und „die alten Weiber“ um sich herum nicht aushält. Er ist erst 71 – was er allerdings gerade nicht weiß, obwohl er erst letzten Monat Geburtstag feierte –, das ist jung im Vergleich. Und dass er der einzige Mann ist in der WG, hat der Zufall so ergeben. Man mietet sich hier einzeln ein, für die Betreuung sorgt ein Pflegedienst. „Die Pflegepartner“ sind in Mülheim nicht Besitzer, nur Begleiter, „Selbstbestimmung“ ist das Prinzip.
Unten ist Herr Scheiffert aus Connys Blickfeld, was nicht nur gut ist: Er verkramt nämlich, so hört man, seine Einkäufe im Zimmer, gegrillte Hühnerbeine oder Frikadellen, und denkt nicht mehr dran. Das Gute am Sieb in seinem Kopf aber ist: Auch die Sache mit den Berlinern hat er gleich vergessen.
Stichwort Demenz
Nach Schätzungen leben in NRW 320 000 Menschen mit Demenz. Prognosen zufolge wird ihre Zahl bis 2050 auf 600 000 wachsen. Mehr als die Hälfte lebt in Heimen, der Rest wird zuhause versorgt – oder in Demenz-Wohngemeinschaften. Bis zu 600 gibt es im Land. Bei einer durchschnittlichen Belegung mit acht Menschen ergeben sich etwa 4500 WG-Mieter.
Das Pflege-Ministerium NRW unterstützt die WG als „gute Betreuungsform“. „Der überschaubare Rahmen“, so Ministerin Barbara Steffens, „bei gleichzeitiger ständiger Anwesenheit einer Betreuungskraft gibt Menschen mit Demenz Vertrauen und Sicherheit.“
Das 2015 erneuerte Wohn- und Teilhabegesetz hat bürokratische Hürden für die Gründung von WGs abgebaut. Zwei Modelle gibt es: die selbstbestimmte WG, in der sich Betroffene einmieten und über die Pflegeversicherung die Betreuung zahlen. Und die von einem Pflegedienst betriebene Wohngemeinschaft.
Er müsste das auch gar nicht machen, Essen verstecken. Sie haben schließlich Ewa hier und Ulla, ihr Reich ist die große Küche, mit Speisekammer, Kaffeemaschine und der „Dokumentation Stuhlgang“ an der Wand. Polnische Wurzeln haben beide und kochen auch so. Sonntag Kotelett und Kartoffeln, Montag Hähnchenschenkel und Kartoffeln, Mittwoch Kohlrouladen und Kartoffeln. Ordentlich was auf die Gabel, „die alten Leute müssen essen“, findet Ulla Synowiec. Und die lieben das, weil sie es von früher kennen. Nicht nur Frau Radberg, die zuhause Essen und Trinken vergaß, hat tüchtig zugenommen. Herr Scheiffert sagt: „Gut, dass hier frisch gekocht wird. Keine Großküche.“ Er war mal Orthopädietechniker, sah viele Einrichtungen von innen, Villa Nestor ist für ihn keine. Sie ist ein Zuhause.
Und die Tafelrunde eine Familie. Wie sie da sitzen, Mittag um zwölf, Kaffee um drei, Abendessen um sechs: Frau Kirschner vor Kopf mit dem laufenden Fernseher im Rücken. Rechts Frau Sandkühler, die etwas grimmig aussieht, aber nicht ist, links Herr Scheiffert, der sie gern piesackt. (Aber gleich werden sie wieder gemeinsam auf der Terrasse eine rauchen.) Vor dem künstlichen Weihnachtsbaum, von Frau Sandkühler geschmückt („viereinhalb Stunden!“), meldet Frau Sonnenschein nach jeder Mahlzeit als erste: „Ich bin satt!“ Und Frau Radberg gegenüber schweigt. Sie sagt nie viel, aber schon viel mehr, seit sie in der Villa Nestor wohnt.
Irene Maxein am oberen Kopfende – sagt nichts. Sie kann es nicht mehr. Oft versucht sie es, aber meist schafft sie nur unverständliche Laute. Weshalb alle jubeln und gleich weitererzählen, wenn Frau Maxein einen Satz gesagt hat. Und sei er so: „Ich muss dir eine kleben.“ Sagt sie doch tatsächlich zu Yasemin, der Pflegeschülerin. Die lässt verblüfft den Löffel mit dem Möhrengemüse sinken. „Manchmal ist sie so“, sagt Yasemin mit einem liebevollen Lächeln, da hebt die alte Frau den Arm: nicht um zu hauen, sondern um Yasemin zu streicheln.
Die 92-Jährige, die alle nur „Lilly“ nennen, kann auch nicht mehr laufen, nicht mehr allein essen, nicht mehr zur Toilette. Sie hat all’ diese Fähigkeiten verloren, ist längst das, was man „schwer dement“ nennt. Aber lachen kann sie! Und Lilly lacht viel. So, dass in ihrem Gesicht die Sonne aufgeht. „Da freut sie sich, das Lillyken“, sagt Frau Kirschner dann und winkt vom anderen Ende der Tafel. Alle lieben Lilly.
„Hier wird Familie gelebt“, sagt Sylvia Eberlein, die Pflegedienstleiterin, „mit allen Höhen und Tiefen.“ Mit Wäscheständer im Flur, Stützstrümpfen auf der Heizung, einer Menge Medizin im Schrank und im Badezimmer bunten Zahnputzbechern mit Namensschildern. Die hier zusammen wohnen, heißen nicht „Bewohner“, erst recht nicht „Patienten“. Sie müssten wohl „Mieter“ heißen, sind aber „unsere Leute“.
Nur selten nennen sie sie beim Vornamen, das Siezen bedeutet Respekt. „Bei fortgeschritten Dementen ist es sinnvoll, sie mit dem Vornamen anzureden. Sie erreichen sie sonst nicht mehr.“ Conny indes duzt die meisten, sie kennt sie schon Jahre und sagt ja selbst: „Sie sind Teil meiner Familie. Sieben Kinder und kein Papa.“ Sie lacht ihr dröhnendes Lachen. Es ist schon vorgekommen, dass sie aus Versehen „Oma“ gesagt hat.
Manchmal zankt die „Familie“, oft hilft sie einander. „Frau Sonnenschein hat nichts zu trinken!“, meldet Frau Radberg, sie ist dazu extra in die Küche gekommen mit ihrem Rollator, auf dem sie auch ihren leeren Teller zur Spülmaschine balanciert. „Frau Kirschner kann doch nicht allein aufs Klo“, mahnt Frau Sandkühler, dabei stimmt das nicht: Sie darf nur nicht allein die Treppe nehmen, und zur Toilette muss sie dauernd. „Sie sehen ja, wie oft ich renne. Die Tabletten.“
Sie sind wie Geschwister in ihrem großen Wohnzimmer, wo sie meistens sitzen, „da, wo das Leben spielt“. Auf dem Schrank stehen Lexikon und Kreuzworträtselbuch, im Fernsehen laufen Seifenopern, von der Stereoanlage kommt Musik. „Ich möcht’ noch einmal 20 sein“, Frau Sonnenschein singt mit und wippt mit den Pantoffelfüßen. Nachmittags kommt häufig Heike Sassenberg, zum Spielen: Sie ist „Alltagsbegleiterin“, und Alltag ist, was Dementen Halt gibt, Struktur – und damit auch Kraft.
Die einzige, die nie dabei sitzt, ist Waltraud Fierlings. Die 83-Jährige wohnt unten mit Fenster zum Garten, sie kommt nicht mehr hoch aus eigener Kraft, aber sie will auch nicht. Sie hat es schön hier und endlich das, was sie im Heim nicht haben durfte: eine Puppenstube. Über 50 Püppchen sitzen in Vitrinen, auf Regalen und dem Sofa, Frau Fierlings mit ihrem steifen Bein in der Mitte. Aber nur drei Stunden, mehr schafft sie nicht. „Mein Bein tut weh“, ruft sie ins Telefon, es ist ja auch schön, wenn jemand kommt.
„Frau Fierlings spricht mit sich selbst“, sagt Conny, „aber das ist nicht schlimm.“ Aus diesen Selbstgesprächen ist zu ahnen, dass sie einst selbst ein Püppchen war, es gab da dunkle Geschichten in der Kindheit. Aus der Gegenwart weiß die alte Dame nicht viel, nur dass sie hübsch aussehen will. Aufs Foto mag sie nur nach Connys Kosmetik, „nicht wie Omma“. Hin und wieder schiebt eine Betreuerin sie im Rollstuhl zum Einkaufen, Frau Fierlings holt dann frische Deko: Blumen aus Plastik, Figürchen, Nippes. „Langsam ist kein Platz mehr“, findet Conny, „aber was hat sie sonst vom Leben?“ Manchmal ist Vergessen auch tröstlich.
Weihnachten aber, sagt Frau Fierlings, als sie so auf ihren Adventsschmuck guckt, finde sie „sch...“ Dann nämlich fällt den Leuten ein, dass es mal jemanden gab, der zum Fest eigentlich da sein sollte. „Kommt mein Sohn?“, will Frau Radberg wissen. „Ich hab’ ja niemanden“, sagt Frau Kirschner, die „zum Heiraten nie Zeit hatte“. Sie mögen viel verloren haben von ihrem Gedächtnis, den Teil, in dem sie ihre Lieben bewahren, nicht. Sogar Frau Sonnenschein kommt ihr verstorbener Sohn in den Sinn.
„Ja, hat denn hier keiner mehr ein Zuhause? Gottseidank haben wir das hier!“
Auch die Kinder vergessen ja nicht, wie ihre Eltern einmal waren. „Meine Mutter war ein Engel“, sagt Marion Franz. Sie kommt am Mittwoch, wie immer legt sie sich zuerst in Lillys Bett. Ein intimer Moment nach dem Mittagsschlaf, die Tochter singt ihr etwas vor. Später sitzt sie da, hält Lillys dünne Hand und guckt mit ihr im großen Fernseher auf dem antiken Schränkchen die „Shopping Queen“. „Schön“, sagt die 92-Jährige dann manchmal. Sie mag es, wenn Marion ihren Schrank aufräumt, sie macht „alles wieder schön“. So wie Lilly schön war, eine feine Frau.
Die eines Tages plötzlich unruhig wurde, aggressiv. Die sich bestohlen und betrogen fühlte, die davonlief, weg, nur weg. „Ich wollte meine Mutter nicht einsperren“, sagt Marion Franz. In der Villa Nestor sei Lilly nun „glücklich in ihrer Welt“, in einem großen Heim, weiß die Tochter, „wäre sie vollkommen verloren“. Lilly lacht, knetet das Tuch in ihren Fingern, mit dem sie ihren Mund abtupfen; sie braucht immer etwas zum Festhalten. Die bunte Schachtel, ihren winzigen Teddybären oder eine warme Hand.
Auch interessant
Frau Kirschner muss heute zum Arzt: der Herzschrittmacher. Sie hat den neuen Puschelpulli angezogen, Conny hat ihr die weißen Haare gemacht. Beim Essen noch saß die 88-Jährige mit Lockenwicklern, „schaut, wie sie aussieht!“, ruft Conny und drückt die alte Frau an ihren Busen. Frau Kirschner lächelt ihr herzlichstes Oma-Lächeln: „Ich war beim besten Friseur!“ Allerdings geht etwas schief, der Herz-Pass steckt nicht in der Tasche, der Arzt kann nicht untersuchen, Frau Kirschner kehrt unverrichteter Dinge wieder heim. „Eine Lustfahrt“, sagt sie und freut sich. Diebisch sogar, vielleicht, weil andere auch mal was verbaseln. Außerdem hat sie die Haare schön.
Beim Kaffee sitzt Frau Kirschner später wie eine Königin, sie hat was zu erzählen! Auch, dass Conny den Herz-Pass schließlich wiederfand. („Nicht, dass alle sagen: Die Conny hat Alzheimer!“) Frau Kirschner wird die Geschichte auch am nächsten Tag noch wissen und am übernächsten. Es gibt dunkle und helle Tage, an hellen funktioniert das Kurzzeitgedächtnis doch.
Überhaupt ist der Kopf häufig noch wach. Wenn Heike Sassenberg „Stadt-Land-Fluss“ vorschlägt, haben Jüngere noch nicht Luft geholt, da fliegen ferne Länder und alte Vornamen mit K schon wie Geschosse durch den Raum: „Kenia! Kongo! Karl, Kurt, Käthe!“ Wobei Frau Sonnenschein zu „Tiere“ Ideen hat, die Herr Scheiffert nicht gelten lässt. „Kalb! Kater!“ Ohnehin hat der es eher mit Brieftauben.
Von seinen eigenen kann er erzählen wie Frau Kirschner von dem „grünen Kleid mit Bömmelkes“, das sie einst beim Vorstellungsgespräch trug. Alte Geschichten kramen sie aus dem Hinterkopf, „aber oft wissen sie nicht mehr“, sagt Pflegedienstchefin Eberlein, „was es zum Mittagessen gab“. Und dass sie ihre eigene Wohnung unter Wasser gesetzt haben. Dass sie den Topf auf dem Herd vergaßen oder das Kochen gleich ganz. Dass man sie verwahrlost auf der Parkbank fand. Dass ein Betreuer sie in die Demenz-WG brachte. „Sie konnten ihren Alltag nicht mehr regulieren“, heißt das dann.
„Eine bessere Pension können wir nicht kriegen. Und Essen! Ein Bett! Wir sind ja Gäste hier."
Sollen sie das glauben, Hauptsache, sie fühlen sich angenommen. „Wenn sie den Baum blau sehen“, sagt Sylvia Eberlein, „ist er eben blau. Man muss den Menschen lassen wie er ist: in seinen Schuhen.“ In anderen WGs gaben sie einer früheren Postbeamtin einen Stempel und einem ehemaligen Prokuristen falsche Verträge. Die Frau stempelt, der Mann unterschreibt, sie haben etwas zu tun. In der Villa Nestor brauchen sie solche Tricks (noch) nicht, aber hier macht Herr Scheiffert Botengänge und die Damen schälen Kartoffeln: „Wir wollen essen“, sagt Frau Sandkühler, „dann müssen wir auch arbeiten.“ Wenn sie Lust haben. Sonst nicht.
Nach der Mittagsruhe backen sie Plätzchen, das kann das Damen-Trio gut, auch wenn die Kipferl am Ende Kekse sind und eigentlich zu hart für die dritten Zähne. Nichts für Herrn Scheiffert und Frau Sonnenschein, „ich seh ja nix“. Naschen aber kann sie, mit dem Finger aus der Schüssel. Zur Belohnung gibt es zum Bingo ein Piccolöchen, eins für alle, und Frau Sonnenschein hat mal wieder eine Frage: „Flipp ich jetzt aus?“
Sekt ist nicht ihrs, aber „Kaffee ist wichtig“, findet Frau Sandkühler. Und Kuchen! „Lecker, ne?“, fragt Herr Scheiffert. „Es geht“, sagt Frau Sonnenschein. „Mund auf, Augen zu!“ Frau Sonnenschein isst lieber Ei. „Aber nur ein weiches.“ Das ist ihre dritte Geschichte. Das Alter, die Augen – und das Ei. Die vierte handelt von Sex. „Sex“ spricht Frau Sonnenschein mit weichem S, und sie spricht oft davon. Wie ihre Ehemänner hießen, fällt ihr selten ein, der Name ihres Liebhabers wohl. „Hast du Sex gehabt?“, will sie morgens wissen. „Ich bin da ja nicht mehr für.“ Demenzkranke vergessen nicht unbedingt ihre Sexualität, zuweilen aber ihr Schamgefühl.
Trotzdem, waschen lassen sie sich nicht gern. „Bei mir sind immer alle picobello“, sagt Conny, sie nennen sie auch „die Körperpflegekönigin“. Conny findet das selbstverständlich, „man will ja, dass sie sauber sind“. Aber es ist eine Gratwanderung. Herr Scheiffert behauptet gern, er sei längst gewaschen; wenn man ihm das Wasser anstellt, wird er wütend. Mittwoch aber ist Frau Sandkühler dran. Nicht einmal neun ist es, noch vor dem Frühstück, und die 79-Jährige hat schlechte Laune. „Guten Morgen? Was soll daran gut sein? Ich muss duschen.“ Conny sagt: „Ich erfülle ihnen alle Wünsche. Aber wenn sie wünschen, nicht gewaschen zu werden: Das geht nicht!“
Daan Vermeulen meint, es gebe „keine ehrlicheren und sensibleren Menschen als die mit Demenz“. Der Therapeut bedankt sich dafür mit etwas Glück: Er kommt heute mal – mit seinem Schwein. „Ein richtiges?“, fragt Frau Sonnenschein entsetzt. „Wat will dat denn hier?“ Es will Freude bringen und ein paar Erinnerungen zurück. An Kindertage zum Beispiel, „da wurden die geschlachtet“, sagt Frau Kirschner. „Pssst!“, macht Frau Radberg, „dat hört dat doch!“
Felix allerdings, „Therapie-Begleitschwein“, tappst neugierig über die Fliesen im Wohnzimmer. Und die alten Leute lernen: Ein Schwein stinkt nicht, außer wenn es nass ist, „dann nach Maggi“. Frau Radberg darf Felix füttern, Frau Sandkühler die rauen Borsten streicheln, und am Ende kriegt das Schwein eine Birne, was Herrn Scheiffert darauf bringt, das Gedicht vom „Herrn Ribbeck“ aufzusagen. Daan Vermeulen geht mit dem Gefühl, für etwas Abwechslung gesorgt zu haben. Frau Kirschner sagt: „Das muss ich nicht wieder haben.“ Und Frau Radberg, die frühere Konditorin: „Plätzchenbacken hat mir besser gefallen.“
Am Ende der Woche geht die Gruppe auf den Weihnachtsmarkt. Es gibt Würstchen und Glühwein sogar. „Mit anderen Demenz-WGs“, seufzt Pflegedienstleiterin Sylvia Eberlein, „könnten wir das nicht mehr machen.“ Da reckt sich Frau Radberg aus ihrem Rollstuhl: „Wir sind aber auch nicht dement.“
„Wie alt bin ich eigentlich? So alt? Dann sterb’ ich sicher bald. Heute aber nicht mehr.“