Dortmund. Im Dortmunder Chor „Dementi“ singen Menschen mit Demenz Schlager von gestern. Manche kennen nicht mehr die Namen ihrer Kinder, aber alle Texte.

Seinen Namen sagt ihm die Tochter vor, sein Alter auch. Aber die Mimi, die kennt Hubert. „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“, der 93-Jährige singt, die Hand fest am Rollator, der Blick geradeaus zum Dirigenten. Wer war das? Bill Ramsey, 1962, weiß doch jeder hier, obwohl sie sonst nicht mehr viel wissen: Im Dortmunder Chor „Dementi“ singen Menschen mit Demenz. Und wie!

„Wer kann, wer’s schafft, den bitte ich aufzustehen!“ Jürgen Kleinschmidt zieht mit seiner guten Laune alle 40 von den Stühlen und Gehhilfen, sie summen wie die Bienchen, sie schütteln die Hände aus und wackeln mit dem Po. „Gut für die Stimme“, raunt Barbara, 61, ihrem Vater zu. So, und „jetzt die Damen wie Maria Callas“, aber „da muss mehr kommen, jodeln Sie, wie Sie wollen“! Klare Ansagen vom Chorleiter, nicht mehr ganz so klare Koloraturen, „und jetzt die Pavarottis“! Dies wird der Gefangenenchor aus „Nabucco“, „nanu, René Kollo ist auch da“ – aber natürlich ist hier niemand gefangen im Wilhelm-Hansmann-Haus.

Sänger sind auf einer Zeitreise, „und wir begleiten sie“

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Allenfalls von der Musik. Und die hat Kraft, gerade für Menschen mit Demenz. Das weiß die Wissenschaft, das weiß auch Jürgen Kleinschmidt: „Musik ist immer verbunden mit Bildern und Gefühlen, jede Melodie weckt eine Erinnerung.“ Jeder habe schließlich, gerade gegen Ende eines langen Lebens, „einen großen Melodienschatz“. Den versucht der 52-Jährige zu heben, Erinnerungen zu wecken. „Wenn jemand bei ,Aber dich gibt’s nur einmal für mich’ weinen muss, und die Ehefrau steht daneben, dann ahne ich warum.“ Menschen mit Demenz, sagt Kleinschmidt, „sind auf einer Zeitreise, wir wissen gerade nicht, wo sie sind, aber wir begleiten sie“.

Singen ist Sauna für die Seele. Tanzen und Klatschen sind auch erlaubt beim Chor „Dementi“.
Singen ist Sauna für die Seele. Tanzen und Klatschen sind auch erlaubt beim Chor „Dementi“. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Deshalb reisen auch der Dirigent und sein Pianist Tobias Schneider mit, sie haben die guten, alten Schlager im Gepäck. „Veronika, der Lenz ist da“ (1930) oder „Spiel mir eine alte Melodie“ (1951); Manfred, 75, singt seiner Frau Silvia liebevoll ins Ohr. Noch verkrampft die 64-Jährige ihre Hände ineinander, später wird sie Arme heben, wie um zu dirigieren. Es folgt „Rosemarie“ – „Sie erinnern sich doch an den fürchterlich schönen Text“? Sicher, an jedes Wort, an jede einzelne Strophe, so viel Inbrunst ist auf einmal im Raum, dass es ganz warm wird.

Und dann der Schluss, jeder soll sich einen Zylinder denken und dann das: „Auf der einen Seite Peter Alexander, auf der anderen Caterina Valente – und jeder einen Ton, von dem er gar nicht wusste, dass er ihn singen kann.“ Es ist laut, es ist schön, „der Fachbegriff dafür ist Kakophonie“, sagt Jürgen Kleinschmidt, aber das stimmt gar nicht. Die Leute singen, wie sie es früher getan haben: im Kirchenchor, in der Schule, bei den Pfadfindern. Manchmal erklingt aus den hinteren Reihen überraschend eine zweite, gar eine dritte Stimme, „das ist nicht immer schön“, sagt Kleinschmidt, aber er meint das nur musikalisch, denn eigentlich ist es gerade das.

Die Texte sind noch da, wenn die Sprache schon weg ist

Meist ist nicht zu erkennen, wer in diesem Saal dement ist und wer nicht, man sieht es allenfalls an den bunten Mappen: „Liedtexte Dementi“. Die sie öffnen und mitlesen, das sind die Gesunden. Bei Hubert liegt der Ordner geschlossen auf dem Rollator, bei Brigitte ungesehen in der Hand, vor der ersten Reihe auf dem Boden. „Die Liedtexte“, sagt Jürgen Kleinschmidt, „sind noch da, auch wenn die Sprache weg ist.“

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Wer doch nachschlagen muss und noch lesen kann, dem helfen Farben und manchmal Bilder. „Rosemarie“ ist das erste Blatt hinter Blau, „das mit den Zahnrädern“ ist eine Zeichnung zu „Die Gedanken sind frei“. Den Kanon zu Beginn aber kann nun wirklich jeder auswendig, und weil sie sich nicht entscheiden können, mischen sie der Lieder einfach vier, alle in derselben Tonart: „Es tönen die Lieder,“, „C-A-F-F-E-E“, „Oh du lieber Augustin“ (und das vierte will uns gerade auch nicht mehr einfallen).

Mutter und Tochter genießen es, gemeinsam zu entspannen

Viele der Schlager haben die Chorsänger wieder aufgefrischt, „wir üben ja auch“, sagt Manfred, der „schätzungsweise 79“ ist. Er kommt mit seiner Tochter Anja zur Probe, und weil’s so schön ist, geht inzwischen auch Ehefrau Doris mit. Einmal im Monat kommen sie so zusammen, „genau die richtige Dosis“, findet der Dirigent. Angehörige, Freunde, Verwandte, wer auch immer die dementen Sänger begleitet, müssen die Probe organisieren können, Zeit freischlagen, „das kann man nicht jede Woche“.

Mutter und Tochter am Klavier: Marion (r.) und Helga Matthies beim Einsingen.
Mutter und Tochter am Klavier: Marion (r.) und Helga Matthies beim Einsingen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

So bleibt der Chor etwas Besonderes. Etwas, das Marion mit ihrer Mutter Helga, 83, erlebt. „Sie freut sich“, sagt die 60-Jährige, „dass ich das mit ihr zusammen mache.“ Das Singen tue der Mutter gut, „dann sind ihre Gefühle voll da“. Manfred und Silvia verbringen Zeit zusammen, viele Ehepaare nehmen singend eine Auszeit vom Alltag. In der Pflege, weiß Jürgen Kleinschmidt, gingen Partner an ihre Grenzen.

Frau und Hörgerät blieben zuhause

„Beim Chor können sie eineinhalb Stunden einfach nur miteinander da sein.“ Oder allein, wie ganz hinten links der Herr, der nur „angeblich“ dement ist und sowohl Frau als auch Hörgerät zuhause gelassen hat. „Ist sonst immer so laut.“ In der letzten Reihe sitzen außerdem Eltern mit ihrer Tochter, von denen es heißt, sie hätten sich sonst „viel in der Wolle“. Aber nach der Probe geht das Trio friedlich nach Hause.

Manches an der Demenz, sagt Jürgen Kleinschmidt, der auch die Begegnungsstätte leitet, „ist für uns verwunderlich“. Die Musik aber knüpfe an Lebensgeschichten an, „da entdecken Kinder plötzlich ihren Vater“. Besonders gut funktioniere das mit Weihnachts-, noch besser bei Martinsliedern: „Da gehen die Leute innerlich mit ihrer Laterne über die Straße.“

Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe!

Jürgen Kleinschmidt motiviert seine Sänger vorbildlich
Jürgen Kleinschmidt motiviert seine Sänger vorbildlich © Stadt Dortmund | Roland Gorecki

Und was hat Bill Ramsey eigentlich sonst noch gesungen? „Die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe!“ Das war 1961. „Souvenirs!“ Mit der „Mimi“ ist der Chor sogar schon einmal aufgetreten, es war ein Riesenerfolg, aber trotzdem schwierig. Anderer Ort, anderer Raum, andere Leute, das hat die Sänger eher verwirrt. An diesem Nachmittag aber gehen sie wieder einmal „glücklich“, wie Hubert sagt. Er hat sonst nichts gesagt, das macht seine Tochter. Aber Barbara ist auch glücklich: „Der Papa“, staunt sie nach ihrer allerersten Chorstunde, „kann die ganzen Lieder auswendig.“

Zum letzten gemeinsamen Lied steht der Chor wieder auf. „Abendstille überall“ klingt mehrstimmig und sagt den Sängern, dass für heute Feierabend ist. Das verstehen alle. Auch wenn sie vielleicht nicht wissen, dass sie wiederkommen in vier Wochen. Und sie kommen immer wieder.

>>INFO: DER CHOR DEMENTI UND SEINE PROBEN

Singen vereint. Ein Ehepaar hält Händchen.
Singen vereint. Ein Ehepaar hält Händchen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die nächste Probe des Chores „Dementi“ findet statt am Dienstag, 17. März, von 16.30 Uhr bis 18 Uhr im Begegnungszentrum Wilhelm-Hansmann-Haus, Märkische Str. 21. Die folgenden Termine: 21. April, 19. Mai, 16. Juni, 21. Juli, 18. August, 15. September, 27. Oktober, 17. November, 15. Dezember. Eingeladen sind Menschen mit Demenz und ihre Begleitpersonen: Freunde, Verwandte, Kinder, Partner.

Informationen und Anmeldung bei Jürgen Kleinschmidt, Tel. 0231 - 50 24 394 oder Mail jkleinschmidt@stadtdo.de. Auch die Alzheimer-Gesellschaft vermittelt.