Ruhrgebiet. Viele Gesundheitsämter sind mit der Omikron-Welle überlastet; sie kommen mit der Meldung der Zahlen nicht mehr nach. Sind die Daten verzichtbar?

Oberhausen: „Hinkt hinterher“. Bottrop: „Im Rückstand“. Recklinghausen: „Phasenweise komplett überfordert“… Nein, im Gesundheitsamt seiner Stadt, seines Kreises möchte man dieser Tage, mitten in der Omikron-Welle, nicht mit der Aufgabe betraut sein, die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen ans Landeszentrum für Gesundheit weiterzuleiten. Denn es sind: so wahnsinnig viele, die gerade Tag für Tag neu oder noch immer positiv getestet werden; die von Ärzten, Kliniken, Testzentren oder Laboren gemeldet werden – mal per Fax, mal digital, mal auf beiden Wegen gleichzeitig; die ja bis vor wenigen Tagen auch noch offiziell in Quarantäne geschickt werden, deren Kontakte nachverfolgt werden sollten; die womöglich sogar Fragen haben, die beantwortet werden wollen. Nicht mehr zu schaffen, sagen viele Kommunen. Sollte man es dann nicht ganz lassen?

Über 2000 Meldungen etwa erreichen täglich den Kreis Recklinghausen, sie müssen in die eigene Statistik eingepflegt und – über eine andere Software – ans Landeszentrum Gesundheit NRW (LZG) in Bochum weitergeleitet werden, Zum Stichtag 8. Februar betrug der „Rückstau“: 17.000 Meldungen. Es sei im laufenden Betrieb einfach nicht mehr möglich, die neuen Fälle vollständig zu erfassen, räumt Dr. Richard Schröder ein, Fachbereichsleiter Gesundheit. Dabei hat der Kreis nach eigenen Angaben „alles“ versucht, einen solchen Rückstau zu verhindern. Er heuerte zusätzlich zum Stammpersonal „RKI-Scouts“ mit befristeten Verträgen an, zog Mitarbeiter aus anderen Teilen der Verwaltung ab, ließ sich von Bundeswehrkräften unterstützen.... Indes: Es reichte nicht. Die Behörde „ertrinkt“ in Fallzahlen.

„Die Hälfte unserer Mitarbeiter im Gesundheitsamt ist nur noch damit beschäftigt“

Auch die Stadt Dortmund erklärte auf Anfrage, dass Meldungen nicht immer tagesaktuell bearbeitet werden könnten; den bis Dienstag aufgelaufenen Verzug von ein, zwei Tagen könne das Gesundheitsamt aber „abarbeiten“ und ab Mittwoch wieder pünktlich sein. Aber die Kontakte Infizierter könnten nicht mehr nachverfolgt werden, positiv Getesteten werden nur noch ein Informationsschreiben zugesandt. (Das Amt muss das auch nicht mehr tun, genauso wenig wie es noch offiziell eine Quarantäne anordnen muss: Laut aktueller Verordnung müssen sich positiv Getestete inzwischen auch ohne behördliche Aufforderung isolieren und auch selbst ihre Kontaktpersonen über ihre Infizierung informieren.)

Gelsenkirchen räumt derzeit bei der Statistik „etwa einen Tag Verzug“ ein. Das tägliche Melden der Infektionszahlen mache „mittlerweile einen Großteil der Arbeit aus“, so Pressesprecher Martin Schulmann. „Die Hälfte unserer Mitarbeiter im Gesundheitsamt ist nur noch damit beschäftigt“, die Situation sei „sehr belastend“.

Momentaufnahme des LZG: 58 Prozent der Kommunen melden verspätet

In den meisten anderen Kommunen sieht es nicht besser aus, bestätigt das LZG, das die von Städten und Kreisen gemeldeten Zahlen ans RKI weiter gibt. Es lud die örtlichen Gesundheitsämter daher am 3. Februar zu einer Videokonferenz ein, bat um Rückmeldungen zu praktischen Problemen im Meldegeschehen, die die Verarbeitung der hohen Fallzahlen zusätzlich erschweren – und präsentierte eine „Momentaufnahme“ der aktuellen Meldelage. Demnach hatten am Stichtag (26. Januar) 58 Prozent der Behörden mehr als einen Tag Verzug bei den Meldungen, zehn mehr als vier Tage und eine Kommune sogar mehr als zehn Tage.

„Ein Lagebild dieser Art ist unter den aktuellen Bedingungen in besonderer Weise flüchtig“, erklärt LZG-Sprecherin Melanie Pothmann. Die aktuell hohen Fallzahlen stellten die Organisation der Meldeprozesse und Datenübertragungen aber sicherlich auf allen Ebenen „vor gewaltige Herausforderungen“. Die Behörde riet den Gesundheitsämtern auf der internen Veranstaltung daher zur „Priorisierung“, etwa: Erst- vor Folgemeldungen zu bearbeiten und aktuelle vor älteren, liegengebliebenen. „Es geht darum, die gegenwärtige Extremsituation durch pragmatische Anpassung auf allen Ebenen so gut wie möglich zu bewältigen“, so Pothmann.

Mehr Personal brächte aktuell wenig: Es müsste ja erst eingearbeitet werden

Die Städte verfahren längst so, sie haben gar keine andere Wahl: Man konzentriere sich inzwischen auf das Ausbruchsgeschehen in den Einrichtungen des Kreises, heißt es etwa in Recklinghausen, vorrangig auf Alten- und Pflegeheime, Kliniken, Schulen und Kitas. Die Kontaktnachverfolgung erfolge nur noch bei vulnerablen Personengruppen und Pflegeeinrichtungen, erklärt Gelsenkirchen. Und Dortmund „priorisiert, indem alle Arbeiten, die zeitlich verschiebbar sind, verschoben werden – dazu gehören unter anderem Dokumentationsarbeiten“, so Pressesprecherin Katrin Pinetzki. Denn selbst eine weitere personelle Aufstockung brächte momentan wenig, „da neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zunächst eingearbeitet werden müssten, was einige Zeit in Anspruch nehmen würde.“

Aus der Politik gibt es bereits erste Forderungen, den „Irrsinn“ (Markus Ramers, SPD) komplett zu beenden – Euskirchens Landrat hält das kommunale Corona-Meldewesen („wir sind zu einer Außenstelle des Landesamts für Statistik geworden“) inzwischen für einen „unnötig komplizierten Weg“, der Ressourcen verschlinge, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnten, wie er im WDR jüngst erklärte. Stephan Pusch, CDU, Landrat im Kreis Heinsberg, pflichtete ihm bei: er warnte vor „Datenfriedhöfen, die für gar nichts mehr gut sind“.

Virologe: Die Inzidenz ist weitestgehend unwichtig geworden

Essens Chefvirologe Professor Ulf Dittmer: Andere Fragen sind wichtiger als Inzidenzen.
Essens Chefvirologe Professor Ulf Dittmer: Andere Fragen sind wichtiger als Inzidenzen. © obs | Universitätsmedizin Essen

In der Tat sinkt die Aussagekraft der Statistik im selben Maße wie die Fallzahlen steigen. Wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten ist, weiß niemand. Viele fragen sich zudem, welchen Unterschied es überhaupt noch mache, ob die Inzidenz bei 900 oder 1500 liegt Ein pauschaler Verzicht auf jegliche Datenerhebung und die kurzfristige Einstellung des Meldewesen“ sei dennoch „keine sinnvolle Alternative“, „eine zu einfache Antwort“, glaubt LZG-Sprecherin Melanie Pothmann. Denn ein kurzfristiger Ausstieg wäre mit absehbar hohem Aufwand im „Wiederanfahren“ verbunden. „Zudem würde dann gegebenenfalls zum ersten Mal eine Situation eintreten, in der gemeldete Fälle in größerer Zahl tatsächlich verloren gehen und auch nachträglich nicht mehr in die Statistik einfließen würden.

Essen Chefvirologe Prof. Ulf Dittmer findet dagegen: „Die Inzidenz ist weitestgehend unwichtig geworden“, seit nicht mehr jede Infektion nachgehalten werden könne. Andere Zahlen wären zudem für eine politische Steuerung des Pandemiegeschehens wichtiger: die zur Hospitalisierung vor allem. „Hier brauchen wir vergleichbare Zahlen – die Bundesländer haben teilweise sehr unterschiedliche Ansätze zur Ermittlung.“ Zu den entscheidenden Fragen der Omikron-Welle zählen für den Corona-Experten zudem: „Wie viele Patienten haben Covid-19 als Hauptbefund und wie viele sind mit anderen Erkrankungen ohne Covid-19 Symptome Sars-CoV-2 positiv?“ sowie „Wie viele Mitarbeiter in Kritis Unternehmen (Unternehmen der Kritischen Infrastruktur), vor allem in den Pflegebereichen, sind aktuell erkrankt oder in Quarantäne?