Düsseldorf. Alle “Cold Cases“ seit 1970 sollen digitalisiert und neu aufgerollt werden. Weil das Zeit frisst, stellt das LKA nun Pensionäre ein.

„Eine Datenbank gegen das Vergessen“ nennt Innenminister Herbert Reul (CDU) die ungewöhnliche Fallsammlung. Seit 2017 digitalisiert das Landeskriminalamt (LKA) alle Tötungsdelikte in Nordrhein-Westfalen der vergangenen 50 Jahre, die nie aufgeklärt werden konnten. Das gibt es laut Reul in der Form in keinem anderen Bundesland.

„Kein Polizist vergisst seinen ungelösten Fall“, sagt LKA-Chef Ingo Wünsch. Doch wenn die Ermittlungskommission erstmal aufgelöst und der zuständige Beamte irgendwann in Rente ist, wanderten die zugeklappten Akten bislang ins Archiv der „Cold Cases“, der erkalteten Fälle. 1160 dieser ungelösten Tötungsdelikte haben sich in NRW seit 1970 aufgetürmt.

Erst 261 Altfälle konnten schon für die neue Datenbank digitalisiert werden. Aktenblatt für Aktenblatt, Asservat für Asservat muss dafür aufbereitet werden. In 23 Fällen ergaben sich nach Jahrzehnten neue Ermittlungsansätze. So konnte etwa im Mordfall an einer Dortmunder Schülerin mit Hilfe mordernster Kriminaltechnik eine alte Hautschuppe doch noch einem Täter zugeordnet werden. Oder in Grevenbroich wurde 25 Jahre nach der Tötung der damals elfjährigen Claudia Ruf ein DNA-Massentest eingeleitet – mit noch offenem Ermittlungsausgang.

Die Digitalisierung der Altfälle frisst viel Zeit

Das Problem: Das Digitalisieren, Sortieren und Aufrollen der „Cold Cases“ ist extrem zeitaufwendig und kann von den Kriminalisten im „normalen“ Mord-und-Totschlag-Alltagsgeschäft kaum erledigt werden. „Bei der Geschwindigkeit werden wir nie fertig“, sagt Reul. Deshalb will das Land nun 28 pensionierte Kriminalisten in den Dienst zurückholen, um die alten Fälle neu anzugehen. Es ist ein ungewöhnliches Projekt, das zunächst auf ein Jahr angelegt ist und den „Rentner-Cops“ zusätzlich zur Pension den Status von Regierungsbeschäftigten gibt.

Doch fürs Geld kämen die meisten nicht zurück, sagt LKA-Chef Wünsch. Vielmehr seien viele Mordermittler auch nach der Pensionierung noch „heiß wie Frittenfett“. „Wir bleiben dran und vergessen nie“, sagt Wünsch, der sich selbst als „Vollblut-Kriminalisten“ beschreibt. Andreas Müller, Leiter der „Zentralstelle Cold Cases“ im LKA, will aus den Ruheständlern der vergangenen acht Jahre „die Besten der Besten“ für die Aufgabe zusammenstellen.

Ungelöste Mordfälle lassen keinen Ermittler los

Die pensionierten Ermittler sollen bewusst nicht an ihren eigenen ungelösten Fällen weiterarbeiten. Vielmehr werden sie ihren Erfahrungsschatz in Teams einbringen, in denen auch aktive Beamte aus den landesweit 16 für Tötungsdelikte zuständigen Kriminalhauptstellen mitarbeiten. „Wir brauchen einen frischen Blick, ohne subjektive Vorannahmen“, erklärt Müller. Wurde damals etwas übersehen oder falsch bewertet? Hilfreich sei auch die immer bessere Kriminaltechnik. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sich herleiten lasse, aus welchem Organ der letzte Blutstropfen des Opfers stamme.

Warum verjährt schwerer Totschlag schon nach 20 Jahren?

Müller ist selbst seit 30 Jahren mit Fallanalysen befasst und kann nicht akzeptieren, dass ein Mord nicht aufgeklärt werden kann: „Wenn Sie erahnen können, was das heißt, wenn sie als Vater die Nachricht bekommen, dass Ihre Tochter geschändet und tot aufgefunden worden ist, dann haben wir die verdammte Pflicht, dranzubleiben.“

Bis Ende des Jahres sollen die 28 Pensionäre gefunden sein. Reul ist erkennbar stolz auf die älteren Jahrgänge „mit einer immer noch guten Spürnase, die Lust haben, jeden Stein nochmal umzudrehen“. Zugleich könnte ihm das Projekt politische Hausaufgaben bescheren. Kriminalist Müller stellt gleich zum Auftakt gesetzliche Rahmenbedingungen in Frage: So fragt er, warum Mord nie verjähre, aber schwerer Totschlag schon nach 20 Jahren. Oder: Warum müssen DNA-Spuren zwei Jahre nach dem Tod eines Mörders gelöscht werden? Für die Bearbeitung der „Cold Cases“ sind das sehr relevante Probleme.

Reul will sich der rechtspolitischen Debatte da gar nicht verschließen. Die Arbeit der pensionierten Mord-Ermittler werde zeigen, „ob es da gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt“, findet er.