Ruhrgebiet. Wer wenig Rente hat, kriegt im Schnitt sieben Jahre früher Krebs. Eine neue Studie der AOK zeigt auch: Gerade Männer gehen nicht zur Vorsorge.

Sitzen zwei Kerle an der Theke, sagt der eine: „Die stecken den Schlauch ja nicht einfach so rein… Das geht links, das geht rechts, das geht hoch. An meiner Darmwand gibt’s nichts auszusetzen!“ Oder der: Kommt der Kellner an den Tisch und gießt Weißwein nach, „alles zur Zufriedenheit bei Ihnen“? Bei ihm nämlich ja: „Die rektale Untersuchung meiner Prostata hat nichts Beunruhigendes ergeben.“ Abtritt, große Augen, aber niemand spuckt den Wein wieder aus und auch nicht ins Bier. Mit solchen Filmchen wirbt die AOK im Fernsehen für die Krebsvorsorge, ihre Botschaft: „Das solltest du auch mal machen.“

Denn bislang tun das viel zu Wenige – und am allerwenigsten die Männer. Laut dem Onkologie-Report der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Rheinland/Hamburg, der heute erscheint, geht nur jeder fünfte Mann zur Krebs-Früherkennung. In den ersten fünf Jahren, in denen etwa die Darmspiegelung für Männer ab 50 empfohlen wird, lassen sich sogar nur 14 Prozent untersuchen. In den rheinischen Städten des Ruhrgebiets sind diese Zahlen am dramatischsten: In Duisburg etwa gehen nur 4,4 Prozent der Männer zur Koloskopie, auch in Mülheim, Oberhausen und Essen liegt die Quote noch deutlich unter zehn Prozent, während sie etwa in Aachen immerhin 20 Prozent erreicht.

Beim Hautkrebs-Screening sucht der Arzt den Körper von Kopf bis Fuß auf verdächtige Pigmentmerkmale ab – wie zum Beispiel Muttermale, Leberflecken oder Altersflecken.
Beim Hautkrebs-Screening sucht der Arzt den Körper von Kopf bis Fuß auf verdächtige Pigmentmerkmale ab – wie zum Beispiel Muttermale, Leberflecken oder Altersflecken. © AOK | Handout

Bei der Mammografie liegen Mülheimerinnen an der Spitze

Die Frauen sind zwar sorgfältiger, aber auch unter ihnen lassen viele Versicherte das Angebot verstreichen. Zum Mammografie-Screening geht immerhin jede zweite, hier liegen die Mülheimerinnen mit 55,2 Prozent sogar mit an der Spitze. Zur übrigen Krebsvorsorge werden aber auch nicht einmal 40 Prozent der Versicherten vorstellig, die wenigsten zählt mit 35,7 Prozent der Kreis Kleve.

Und in den Anfängen der Corona-Krise sind die Zahlen noch weiter zurückgegangen. Die AOK hat ausgerechnet, dass die Teilnahme an von der Kasse bezahlten Screening-Programmen 2020 um bis zu 20 Prozent weniger wurde, verglichen mit den drei Vorjahren. Besonders stark war der Einbruch in den ersten beiden Quartalen, als viele Menschen Sorge hatten, sich ausgerechnet in einer Arztpraxis anzustecken.

Das hat Folgen, die die AOK in Zahlen ausdrücken kann: Rein rechnerisch, heißt es im Onkologie-Report, seien im ersten Corona-Jahr 4,1 Brustkrebserkrankungen auf 100.000 Versicherte unentdeckt geblieben; auch 4,5 Prostatakrebs-, 1,9 Darmkrebs- und 6,9 Hautkrebs-Fälle wurden demnach nicht erkannt. Und das sind nur die Erkrankungen, die durch das Vermeiden der Krebsvorsorge nicht auffielen: Insgesamt wurden 169 Neu-Erkrankungen auf 100.000 Menschen weniger diagnostiziert als im Durchschnitt der Vorjahre. Je später aber erkannt wird, desto mehr sinken die Heilungschancen. „Es geht hier“, sagt Günter Wältermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, „ums Überleben!“

Menschen mit weniger Geld haben ein kürzeres Leben

Darmspiegelung: Im Ruhrgebiet gehen Männer lieber nicht hin.
Darmspiegelung: Im Ruhrgebiet gehen Männer lieber nicht hin. © picture alliance / dpa | Patrick Pleul

Dabei erkranken manche Versicherte sogar noch deutlich früher. Eine zentrale Erkenntnis des Krebsreports ist die: Männer und Frauen mit niedrigem sozialen Status erkranken durchschnittlich sieben Jahre früher als Menschen, die mehr Geld zur Verfügung haben. Das heißt, sagt Wältermann: „Sie leben auch sieben Jahre weniger und werden schwerer krank.“ Die Statistiker machen das fest am Einkommen Älterer: Wer zum Beispiel weniger als 800 Euro Rente bezieht, ist im Schnitt 71 Jahre alt, wenn er Darmkrebs bekommt. Ein Mann mit einer Rente von 1600 Euro und mehr erkrankt erst mit 77,5 Jahren. Beim Hautkrebs ist der Altersunterschied noch größer. Bei den Rentnerinnen schlägt ein niedriges Einkommen besonders bei gynäkologischen Krebserkrankungen (knapp neun Jahre) oder bei Kopf-Hals-Malignomen (fast zehn Jahre) durch.

Gründe dafür sieht die AOK vor allem in der „Gesundheitskompetenz“ finanziell schlechter gestellter Menschen. Sie rauchten mehr, ernährten sich ungesünder, trieben weniger Sport – und wissen oft nicht um die Hilfen, die das Gesundheitssystem für sie vorsieht. „Wir möchten“, sagt Wältermann, „dass alle dieselben Chancen haben zu genesen, unabhängig von ihrem sozialen Status.“ Regionale Gesundheitskonferenzen oder „Gesundheitskioske“, wie es sie in Köln schon gibt und wie sie etwa in Essen gerade entstehen, sollen helfen, die Versicherten niederschwellig zu erreichen. Man müsse die Menschen an die Hand nehmen, „da helfen keine Briefe“.

„So lange ich mich nicht krank fühle, muss ich auch nicht zum Arzt“

Der Gesundheitskiosk „Die Kümmerei“ in Köln: Vorbild für ähnliche Einrichtungen, die sozial Schwächere erreichen sollen und wie sie etwa in Essen entstehen.
Der Gesundheitskiosk „Die Kümmerei“ in Köln: Vorbild für ähnliche Einrichtungen, die sozial Schwächere erreichen sollen und wie sie etwa in Essen entstehen. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Aber warum gehen die Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten nicht rechtzeitig zur Früherkennung, und gerade Männer nicht? Eine aktuelle Untersuchung des AOK-Bundesverbandes zeigt, dass es sich vielfach um schambesetzte Untersuchungen handelt, über die Menschen nicht gern sprechen und zu denen sie sich überwinden müssen. Es stimmt aber auch dies: „Männer halten sich für gesund und stark“, weiß Günter Wältermann, der ja selbst einer ist. „So lange ich mich nicht krank fühle, muss ich auch nicht zum Arzt.“ Die neuen TV-Spots sind eine Reaktion darauf: „Wir wollen mit der unkonventionellen Ansprache Barrieren abbauen und die Beschäftigung mit dem Thema Vorsorge aus der Tabuzone holen“, sagt Stellvertreter Rolf Buchwitz.

Die Krankenkasse hat sich deshalb auch Anzeigen ausgedacht wie diese: „Es gibt viele Gründe, nicht zur Vorsorge zu gehen. Nur eben keinen guten.“ Oder das Werbefilmchen, in dem eine Frau ihrem Schwarm unter ihren besonderen Vorzügen auch diesen aufzählt: „Mein Gebärmutterhals ist tipptop.“ Der Vorstand musste selbst zunächst schlucken, als er die „gewagte“ Werbung sah für die Leistungen des eigenen Hauses. Doch beide Männer („gerade die brauchen eine Ansprache!“) sind von ihrem Slogan überzeugt: „Deutschland...“, oder auch „Ruhrgebiet, wir müssen über Gesundheit reden!“

>>INFO: KREBSERKRANKUNGEN IN DEUTSCHLAND

Jährlich erkranken in Deutschland etwa 490.000 Menschen an Krebs. Das entspricht einer Inzidenz (Achtung, die gibt es nicht nur bei Corona!) auf 100.000 Menschen von 560 bei Frauen und 637 bei Männern. Allein 70.000 Diagnosen werden im Bereich der AOK Rheinland/Hamburg gestellt. Laut Krebsregister des Robert-Koch-Instituts erkrankt jeder zweite Mann im Lauf seines Lebens, Frauen trifft es etwas seltener.