Ruhrgebiet. Zweiter Anlauf der vierten oder schon die fünfte Welle? Die Corona-Zahlen steigen, Ärzte warnen vor dem Winter – vor allem die Ungeimpften.
Eine Million. In dieser Woche war die Zahl der Corona-positiven Menschen in NRW zum ersten Mal siebenstellig. Mehr als 18.000 sind an Covid-19 gestorben. Und die Menge der Infizierten wächst schon wieder rasant. Wie wird der Winter?
Die Experten hatten es geahnt und gewarnt: Wenn die Temperaturen fallen, steigen die Zahlen. Überraschend sei für ihn nur, sagt Prof. Christoph Hanefeld, Medizinischer Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum, „dass so viele überrascht sind“. Denn wenn auch vieles am Corona-Virus noch immer rätselhaft bleibt, eines ist ja längst bekannt: Der Erreger liebt die kalte Jahreszeit, sowieso und besonders, weil die Menschen dann lieber drinnen sind, alle miteinander in derselben Atemluft. Und das neuerdings gern ohne Maske. Den Anstieg der Fallzahlen hatte deshalb nicht nur das Robert-Koch-Institut (RKI) geradezu termingenau vorhergesagt: für die zweite Oktoberhälfte.
Und so ist es gekommen. Innerhalb von nur einem Tag sprang die Sieben-Tage-Inzidenz in NRW zuletzt von 79,2 auf 91,7, bundesweit sogar auf 130,2. Vor einem Jahr lag die Zahl der Infizierten auf 100.000 Einwohner bei 110,9 – wenige Tage danach ging das Land in einen neuen Lockdown. Wie geht es diesmal weiter?
Wohin schwappt die vierte Welle?
Die Zahlen werden noch weiter steigen. Gerade bei Kindern, die aus den Herbstferien kommen, werden Infektionen erst jetzt entdeckt – und es wird auch wieder mehr getestet. Aber, auch hier sind sich die Experten einig, die Zahlen werden nicht mehr unendlich hochgehen, werden ab einem noch nicht bekannten Punkt auch wieder stagnieren. So war es im Ruhrgebiet bereits im September, übrigens ohne dass neue Maßnahmen gegriffen hätten: Von der „ersten Welle, die sich ohne Intervention des Staates selbst gebrochen hat“ spricht deshalb Dortmunds Gesundheitsamtschef Dr. Frank Renken. „Eine gute Nachricht.“ Er nennt die aktuelle deshalb bereits die fünfte Welle, für andere rollt gerade noch die vierte und erlebt einen weiteren Höhepunkt.
Wie das kommt: „Das Virus“, sagt Prof. Ulf Dittmer, Leiter der Klinik für Virologie am Universitätsklinikum Essen, „kann sich durch die Impfungen nicht mehr so stark ausbreiten, es kann nicht mehr jeden Menschen infizieren.“ Grundsätzlich sind die Ärzte über die Impfung „heilfroh“, sie habe die Situation zwischen den Wintern 2020 und 2021 vollkommen verändert. Bochums Klinik-Geschäftsführer Hanefeld hat die Abwehrmaßnahmen gegen das Virus immer mit einem Deich verglichen, heute sagt er: „Er ist hochgezogen, und er wird halten.“ Es wird, da ist sich auch der Essener Virologe Dittmer sicher, „auf keinen Fall mehr schlimmer als im letzten Jahr“. Was das aber etwa für Weihnachten bedeutet, ahnen die Experten noch nicht. Fest steht, was auch im letzten Jahr schon galt: Das Fest, sagt Dittmer, „interessiert das Virus nicht“.
Wer steckt sich jetzt noch an?
Vor allem die Ungeimpften, sagt Dittmer. Zwar schütze kein Impfstoff zu 100 Prozent, Ungeimpfte trügen aber ein wesentliches höheres Risiko. Das Leben sei „unsicherer für Ungeimpfte“, sagt Dortmunds Gesundheitsamtschef Dr. Frank Renken. Er sieht das auch an den Statistiken aus den Stadtteilen: Wo weniger Menschen geimpft seien, lägen die Inzidenzen umso höher.
Allerdings behalten die Infizierten das Virus nicht für sich. „Das medizinische Problem Covid-19 wird in der derzeitigen Welle hauptsächlich von Ungeimpften verursacht“, sagt Virologe Dittmer. Das heißt, sie infizieren sich nicht nur selbst und können schwer erkranken, sondern auch andere: „Die Nicht-Geimpften sind die Auslöser“, sagt auch Prof. Hanefeld. Sie kann das Virus leicht treffen, aber sie verbreiten es auch. Auch an Immungeschwächte, die doppelt geimpft sind.
Wer derzeit positiv getestet wird, ist meistens jung: Der Großteil der neuen Fälle etwa in Dortmund ist zwischen 20 und 50 Jahre alt. zwischen 20 und 50 Jahre alt. Das „Drama“ dabei, sagt Renken, seien die schweren Erkrankungen und ihre Folgen – nicht „nur“ Long Covid, sondern auch schwere Schädigungen der Lunge. Nicht jeder junge Mensch wird als gesund entlassen: „Wenn ich nicht sterbe, bin ich noch lange nicht wieder fit.“
Wer landet mit Covid im Krankenhaus?
Eindeutig: in der großen Mehrheit, über 90 Prozent, die Ungeimpften oder nicht vollständig Geimpften. Hinzu kommen jene, die aufgrund von immunschwächenden Krankheiten nicht geimpft werden können oder keinen ausreichenden Schutz aufbauen konnten. Bundesweit hat sich allein die Zahl der auf Intensivstationen Behandelten binnen zwei Wochen verdoppelt. In NRW werden derzeit 1149 Personen in stationär betreut, davon befinden sich 344 auf einer Intensivstation.
Können die Krankenhäuser die Welle aushalten?
Im Winter wird es auf den Stationen immer eng. Der Gesetzgeber hat die Zahl der Intensiv-Pflegebetten schon vor Corona verknappt. Personal zu finden wird schwieriger, die Engpässe, bestätigt Christoph Hanefeld, seien „spürbar“. Hinzu kommt: Nach 20 Monaten Pandemie seien viele Pflegekräfte „kräftemäßig am Ende“.
In Dortmund stieg die Zahl der Covid-Patienten in den Kliniken binnen einer Woche von 26 auf 44, auch die Zahl der Intensivpatienten wächst. Für das System sei das noch nicht dramatisch, sagt Gesundheitsamtsleiter Renken. In den Häusern des Katholischen Klinikums Bochum liegen derzeit 26 Covid-Patienten, ein Niveau, wie es im Frühling schon einmal da war und wie es sich seit den Sommerferien in etwa hält. Zum Vergleich: In der letzten Winterwelle waren es bis zu 100 Patienten. Ein Krankenhaus aber muss grundsätzlich nicht nur die positiv getesteten Fälle zählen. In Bochum kamen seit März 2020 auf 913 Infizierte 3300 Verdachtsfälle, die zunächst mit demselben Aufwand isoliert werden mussten.
Problematisch: Mit dem Wegfall der Maske kommen Erkältungs- und andere Infektionskrankheiten zurück. Mediziner fürchten eine ernsthafte Zunahme im Krankenhaus behandlungsbedürftiger Patienten. Die Grippewelle im letzten Winter ist ausgefallen, kommt sie in diesem? „Wir wissen es nicht“, sagt Hanefeld, „aber wir müssen vorbereitet sein.“
Wie wichtig ist das Boostern?
Die Mediziner im Ruhrgebiet drängen darauf. Der Anteil älterer Menschen mit Impfdurchbrüchen wächst, auch in den Kliniken. Alle über 70 sollten sich um einen Termin für die dritte Impfung bemühen, weil ihr Impfschutz offenbar bereits nachlässt. Nicht nur Renken macht die Entwicklung Sorge. Privatdozent Dr. Bernhard Schaaf, Direktor der Klinik für Infektiologie, Pneumologie und internistische Intensivmedizin im Klinikum Dortmund, wünscht sich, dass die Menschen nicht nur eingeladen werden, sondern die Auffrischungs-Impfung auch von der Politik stärker getrieben wird. „Die Leute kommen nicht unbedingt von allein.“
Gibt es doch wieder einen Lockdown?
Die Politik will das nicht, der Noch-Gesundheitsminister ebenso wenig wie die kommende Regierung. Und auch die Mediziner raten ab: „Wir dürfen keinen Lockdown mehr haben“, sagt in Essen Prof. Dittmer. Wegen der inzwischen bekannten medizinischen Folgen sei es für ihn „völlig ausgeschlossen, Kinder und alte Menschen wieder zu isolieren“.
Was können die Menschen selbst tun?
Sich bei allen Lockerungen, sagt etwa Prof. Hanefeld in Bochum, „an die Basismaßnahmen halten“: Abstand, Mund-Nasen-Schutz, auf das Händeschütteln verzichten. Etwa drei, vier Monate noch, mindestens. Einen Freedom Day wie in England wiederum, an dem alle Masken und Regeln fallen, dürfe es „auf keinen Fall geben“. Und wenn es doch passiert ist und sich jemand angesteckt hat, appelliert der Dortmunder Infektiologe Schaaf an die Erkrankten: „Nicht warten, bis Sie schon Luftnot haben!“ Je früher behandelt wird, desto besser die Chance auf Genesung.
>>DIE AUFFRISCHUNGS-IMPFUNG
Spätestens seit Anfang September laufen in NRW die Auffrischungs-Impfungen. Priorität hatten zunächst die Bewohner von Senioren- und Pflegeeinrichtungen, da ihr Basis-Impfschutz meist schon seit Jahresbeginn besteht und nach Studien besonders bei Älteren nachlässt. Grundsätzlich können aber auch Pflegepersonal, alle Menschen ab 70 Jahren, Immungeschwächte oder diejenigen, die mit dem Vektor-Vakzin von Johnson und Johnson immunisiert worden sind, die sogenannte Booster-Impfung bereits erhalten – ein halbes Jahr nach der zweiten Impfung. In der Regel übernimmt das der Hausarzt, in Absprache auch für Jüngere. Im Katholischen Klinikum Bochum und seinen angeschlossenen Häusern besteht das Angebot ab sofort ebenfalls für das Personal mit Patientenkontakt.
Im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) sind inzwischen fast 200.000 Menschen zum dritten Mal geimpft, in Westfalen-Lippe (KVWL) mehr als 165.000. Die Zahl steigt täglich und deutlich. Nach wie vor impfen niedergelassene Hausärzte in Westfalen bis zu 80.000-mal in der Woche, auch Erst- und Zweitimpfungen eingerechnet. Die Auffrischung sei wichtig, betont die KVWL, trotzdem sei es nicht nötig, auf den Tag genau ein halbes Jahr nach der Zweitimpfung in der Praxis zu sein: „Der Impfschutz verschwindet ja nicht auf Knopfdruck“, sagt KVWL-Vorsitzender Dr. Dirk Spelmeyer. Jeder Patient könne in Ruhe planen. Inzwischen ist es längst auch möglich, zeitgleich gegen Corona und die Influenza zu spritzen.