NRW. Die Erkältungswelle trifft NRW früher und stärker als üblich. Ist unser Immunsystem während der Corona-Pandemie aus der Übung gekommen?
Es geht wieder los: das Schniefen und Husten. Ob in der Bahn, im Büro oder in der Kita, überall sieht man rote Nasen. „Wir haben zunehmend Patienten und Kunden, die erkältet sind“, bestätigt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein und ergänzt: „Ein Zeichen, dass wir das mit dem Abstandhalten und Masketragen nicht mehr so ernst nehmen.“
Nach anderthalb Jahren Pause kehrten die Erkältungsviren nun mit voller Wucht zurück. „Es sind das Parainfluenza-Virus und das Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV), die sich nun schlagartig ausbreiten“, sagt Oliver Funken, Vorsitzender des Hausärzteverbands Nordrhein. Vor allem in den Schulen und Kitas mache sich die Erkältungswelle bemerkbar – deutlich früher als üblich: „Das ist ein vorgezogener Herbst und Winter“, sagt Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein. Am vergangenen Samstag habe er 70 Kinder mit Erkältungssymptomen in der Notfallpraxis behandelt – was untypisch für die Jahreszeit sei. „Die Welle ist da“, sagt Gerschlauer, „und sie ist nicht nur früher, sondern auch stärker als sonst.“
Doch woran liegt das? Ist unser Immunsystem in den Pandemiemonaten aus der Übung gekommen? Hat die lange Zeit des Maskentragens, Abstandhaltens und Händedesinfizierens dazu geführt, dass uns ein Schnupfen völlig aus der Bahn wirft?
„Unser Immunsystem ist nicht mehr darin geschult, die Erkältungsviren abzuwehren“
„Jede Infektion ist wie ein Booster, eine Auffrischung für unsere Abwehrkräfte“, erklärt Thomas Preis vom Apothekerverband Nordrhein. Abgesagte Veranstaltungen, geschlossene Schulen, Arbeiten im Homeoffice – all das habe jedoch dazu geführt, dass in den vergangenen anderthalb Jahren kaum jemand schniefend im Wartezimmer saß. Bedeutet: „Unser Immunsystem ist nicht mehr darin geschult, die Erkältungsviren abzuwehren.“ Und die kalte Jahreszeit stehe uns noch bevor. Die meisten Infektionen mit dem RS-Virus, das eine Erkrankung der oberen Atemwege auslöst, träten für gewöhnlich zum Jahreswechsel auf.
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„Das wird eine furchtbare Saison“, sagt Kinderarzt Axel Gerschlauer. Das Immunsystem der Kinder habe anderthalb Jahre Pause gehabt. Die „verpassten“ Infektionen holten sie nun nach. „Es kann sein, dass das Kind gerade auf dem Weg der Besserung ist, da kommt bereits die nächste Erkältung.“
Vermutlich bis Ostern werde die Erkältungswelle andauern, so der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein. Eltern sollten ihre Kinder daher bei „banalen Atemwegsinfektionen“ unbedingt in die Kita oder Schule schicken. „Sonst sitzen sie bis April zu Hause“, sagt Axel Gerschlauer. Die Kinder hätten in den vergangenen Monaten genug versäumt und ein Recht auf Bildung und Betreuung. „Wenn das Kind kein Fieber hat und gut drauf ist, besteht kein Grund, es zu Hause zu lassen.“
Klaus Bremen, Landesvorsitzender des Deutschen Kitaverbandes in NRW, sieht das anders. So könne eine Schnupfnase nicht immer eindeutig einer Erkältung zugeordnet werden. Eltern sollten ihre Kinder bei Erkältungssymptomen zunächst 24 Stunden zu Hause lassen, beobachten und im besten Fall einen Schnelltest machen lassen, bevor sie sie wieder in die Kita schicken, empfiehlt er.
Erkältungswelle: „Die Viren sind nicht aggressiver geworden“
Laut dem Vorsitzenden des Hausärzteverbands Nordrhein könnte es insbesondere bei immungeschwächten und vorerkrankten Menschen zu „heftigeren Krankheitsverläufen“ kommen. „Die Viren sind nicht aggressiver geworden“, stellt Oliver Funken klar. Weil das Immunsystem während der Corona-Pandemie und den geltenden Kontaktbeschränkungen jedoch nicht trainiert worden sei, hätten die Erkältungsviren mehr Zeit, sich im Körper auszubreiten.
Hinzu komme die unterschwellige Angst: „Ist das jetzt Corona?“ So kämen viele verunsicherte Patientinnen und Patienten in die Hausarztpraxen, die ihren Schnupfen vor der Pandemie zu Hause auskuriert hätten. Funken: „Wir müssen den Menschen wieder Normalität beibringen.“
Grippeimpfung könnte weniger effektiv sein als sonst
Auch an der Grippe werden in den kommenden Monaten mehr Menschen als sonst erkranken, vermutet Hausarzt Oliver Funken. „In dem Moment, in dem wir die Masken fallen lassen, ist der Grundstein gelegt für das Influenzavirus.“ Vor einer Infektion schütze normalerweise eine Grundimmunität, die durch Infektionen aufgefrischt wird, oder eine Impfung. Durch den Ausfall der Grippewelle im vergangenen Winter könnte die Grippeimpfung jedoch weniger effektiv sein als sonst, befürchtet Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts. „Die Datenbasis, auf der der Impfstoff erarbeitet wurde, ist nicht so gut wie die Datenbasis der Vorjahre“, so der RKI-Chef. In jeder Influenza-Saison kursierten andere Virusvarianten, daher müsse der Impfstoff jährlich angepasst werden.
Apotheker Thomas Preis geht dennoch davon aus, dass die Grippeimpfung in diesem Jahr „sehr gut schützt“ und empfiehlt vor allem Vorerkrankten und Menschen, die älter sind als 60 Jahre, sich impfen zu lassen. „Die Grippeimpfung hat generell nicht so eine hohe Effektivität wie wir das von anderen Impfungen gewohnt sind“, sagt er, „auch von der Corona-Impfung.“ Sie könne aber „viele schwere Erkrankungen verhindern“.
Einem „Freedom Day“, also einem Tag, an dem sämtliche Corona-Beschränkungen aufgehoben werden, steht Thomas Preis mit Blick auf den Herbst und Winter sehr kritisch gegenüber: „Damit öffnet man Tür und Tor für weitere Infektionen.“ Es sei wichtig, in Supermärkten, im Nahverkehr, im Wartezimmer weiterhin Mund und Nase mit einer medizinischen Maske zu bedecken – um sich vor dem Coronavirus, aber auch vor Erkältungs- und Grippeviren zu schützen. Preis: „Es wäre fatal, wenn das Gesundheitssystem zusätzlich durch an Grippe erkrankte Patienten belastet wäre.“
Vorgezogenen RSV-Prophylaxe
■ Bislang gibt es keinen Impfstoff gegen das RS-Virus. Kinder mit Vorerkrankungen und Frühgeborene können jedoch durch die Gabe von Antikörpern passiv immunisiert werden.
■ Aufgrund der verfrühten Erkältungswelle in diesem Jahr empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, bereits im Oktober mit der Prophylaxe zu beginnen.