Ruhrgebiet. Ob dunkler Park oder U-Bahn-Tunnel – manche Ecken einer Stadt lösen Ängste aus. Woher gefühlte Unsicherheit kommt, zeigt die Angstraum-Forschung.

Durch schummriges Licht und an verschmierten Wänden vorbei hastet man durch die Bahn-Unterführung. Uringeruch liegt in der Luft, und dann tritt auch noch eine fremde Gestalt in den dunklen Tunnel. Ob U-Bahn-Eingang, dunkler Park oder Bahnhofsvorplatz – in wohl jeder Stadt im Revier vermögen bestimmte Orte Furcht oder zumindest Unbehagen auszulösen: Angsträume.

„Obwohl wir uns in Deutschland nachweislich auf einem ganz hohen Sicherheitslevel bewegen, hat die gefühlte Sicherheit abgenommen,“ sagt Anna Rau, Geschäftsführerin des Deutsch-Europäischen Forums für Urbane Sicherheit (DEFUS). Warum? Was wissen wir tatsächlich über gefühlte Unsicherheit? Eine ganze Menge, zeigt ein Blick in die Angstraum-Forschung.

Ist ein Angstraum gefährlich?

Nicht zwangsläufig. Ein Angstraum muss kein wirklicher Gefahrenort sein, weshalb Forschende wie der Soziologe Tim Lukas auch mit dem Begriff hadern. „Die subjektive Wahrnehmung eines Ortes hat nicht unbedingt etwas mit der tatsächlichen Kriminalitätslage vor Ort zu tun. Das ist ein ganz zentraler Befund, der sich auch anhand vieler Studien nachweisen lässt,“ sagt Lukas, der an der Bergischen Universität Wuppertal zu Sicherheit in der Stadt forscht. „Der Raum ist niemals kriminell, sondern die Menschen sind kriminell.“

Anna Rau ist seit 2016 die Geschäftsführerin des Deutsch-Europäischen Forums für Urbane Sicherheit (DEFUS).
Anna Rau ist seit 2016 die Geschäftsführerin des Deutsch-Europäischen Forums für Urbane Sicherheit (DEFUS). © DEFUS | Anna Rau

Lesen Sie hier: Wo Angsträume berechtigt sind, und wo nicht

Was macht Angsträume aus?

„Verwahrlosungserscheinungen im öffentlichen Raum, die den Menschen anzeigen, dass die soziale Kontrolle dort vielleicht reduziert ist,“ so Lukas. „Wenn dort Graffiti an der Wand sind, es dunkel ist oder nach Urin riecht, verstärkt sich der Eindruck: Wenn mir hier etwas passiert, dann ist niemand da, der mir helfen kann.“ Eine erste Vermüllung eines öffentlichen Ortes muss allerdings keine Abwärtsspirale nach sich ziehen – sagt Anna Rau. „Diese ,Broken-Windows-Theorie’ ist heute widerlegt – man weiß mittlerweile, dass Verwahrlosung nicht zwangsläufig dazu beiträgt, dass die Kriminalität steigt oder die subjektive Unsicherheit zunimmt.“

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Warum fürchten wir uns überhaupt im öffentlichen Raum?

Kriminalität befindet sich auf einem niedrigen Niveau, und doch fühlen sich die Menschen unsicher, so die DEFUS-Geschäftsführerin. Nachweislich gestiegen seien in den letzten Jahren Computerkriminalität, die Verbreitung von Pornografie, sexueller Missbrauch von Kindern und Hasskriminalität – Delikte, die eher im privaten Raum als auf der Straße verübt werden. Laut Rau hängt die gestiegene Unsicherheit mit sozialen Abstiegsängsten zusammen – „dem Gefühl, in einer immer schnelllebigeren, globalisierten Welt abgehängt zu sein“. So könnten einige Menschen in international geprägten Stadtvierteln die Diversität vor Ort nicht aushalten.

Unterscheiden sich Angsträume von Stadt zu Stadt?

Im Großen und Ganzen ähneln sich die Problemlagen in den verschiedenen Städten in NRW, Deutschland und Europa, so Anna Rau. Unterschiede zeigten sich allerdings in der Wahrnehmung. „Während in Rom Roma als Problem wahrgenommen werden, ist das kein Problem in Lissabon,“ sagt die DEFUS-Geschäftsführerin. „In Frankreich gibt es große Probleme mit Rollerrennen, in Deutschland mit Posern, die illegale Autorennen in Städten fahren.“

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Wer fürchtet sich vor wem?

Je nach Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft oder äußerem Erscheinungsbild unterscheidet sich die Angst im öffentlichen Raum stark. „Ich überspitze mal: Der 75-jährige Deutsche Erwin Müller mag eine syrische Familie als bedrohlich empfinden, während selbige Familie sich wiederum vor deutschen Hooligans oder Neonazis fürchtet, die ihnen auf der Straße entgegenkommen,“ sagt Anna Rau.

Neben älteren Menschen vermieden es auch junge Frauen, nachts öffentliche Parks zu queren. Sogenannte „Viktimisierungsstudien“ in Deutschland hätten zu Tage befördert, dass Frauen aufgrund ihrer Sorge vor sexueller Gewalt und Belästigung ein anderes Verhältnis zu Sicherheit haben als Männer. Ebenso Menschen mit Migrationsgeschichte – „aufgrund der Diskriminierungserfahrungen, die sie im Alltag andauernd erleben“.

Dr. Tim Lukas forscht an der Bergischen Universität Wuppertal zu Ambivalenzen in der Sicherheitsgesellschaft – und Schnittstellen zwischen städtebaulicher Kriminalprävention und urbaner Resilienz.
Dr. Tim Lukas forscht an der Bergischen Universität Wuppertal zu Ambivalenzen in der Sicherheitsgesellschaft – und Schnittstellen zwischen städtebaulicher Kriminalprävention und urbaner Resilienz. © Universität Wuppertal | Universität Wuppertal

An den Bahnhöfen fürchteten sich viele Menschen vor Suchtkranken. „Fakt ist aber, dass die Szene in den meisten Fällen unter sich bleibt“, betont Rau. „Wenn man jetzt nicht sein iPhone 13 offen im Fahrradkorb liegen hat, muss man sich eigentlich nicht fürchten.“ Anders sieht es für die Menschen der Straßenszenen selbst aus, erklärt Tim Lukas von der Universität Wuppertal. Die Unsicherheit im öffentlichen Raum sei für diese Menschen sehr real. „Unsere Forschung zeigte: Deren Angsträume überschneiden sich mit denen der Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft.“

Mehr Angst ohne Grund

2020 wurden in NRW 290.870 Delikte im Bereich „Straßenkriminalität“ erfasst.

Kriminologe Thomas Feltes von der Universität Bochum hat die Kluft zwischen realer und gefühlter Kriminalitätbereits vor fünf Jahren gemessen: Von 3500 repräsentativ befragten Bochumern sah es fast jeder Fünfte als wahrscheinlich an, Opfer eines Raubüberfalls zu werden. Tatsächlich lag das Risiko bei 0,3 Prozent.

Sind Polizeipräsenz oder Videoüberwachung eine Lösung?

Polizei und Ordnungsamt werden nicht von allen Menschen als schützend wahrgenommen, aufgrund von ,Racial Profiling’ bei Kontrollen in diversitätsgeprägten Stadtteilen,“ sagt Tim Lukas, „dort wird die Polizei als Aggressor oder mindestens als Stressor wahrgenommen.“

Auch Studien zur Videoüberwachung im öffentlichen Raum legten nahe, dass Kameras weniger ein Sicherheitsgefühl, sondern vielmehr einen Hinweis auf Unsicherheit geben, so Lukas: „Nach dem Motto: ,Warum ist da eine Kamera, wenn es hier nicht gefährlich wäre?’“ Erfolgreicher könnte der Kontakt zwischen sozialen Gruppen und das Einbeziehen der Bürgerinnen und Bürger in die ,kriminalpräventive Praxis’ vor Ort sein, sagt Tim Lukas: „Teilnahme schafft Sicherheit – wenn ich mich einbringe und so gewisse Prozesse mit beeinflusse.“

Lesen Sie hier den Leiter der LKA-Forschungsstelle NRW im Interview