Essen. Sogenannte Angsträume werden in vielen NRW-Städten beklagt. Der Leiter der LKA-Forschungsstelle Ralf Kluxen erklärt, wo die Angst berechtigt ist.
„Sag Bescheid, wenn du gut daheim angekommen bist!“ – Die Angst, nachts allein unterwegs zu sein, ist selbst in einem Land wie Deutschland weit verbreitet, auch in vielen Revier-Städten. Doch wie berechtigt ist die Furcht vor gewissen Ecken in der Stadt, verschmierten U-Bahnhöfen oder unbeleuchteten Parks? Kriminaldirektor Ralf Kluxen leitet im Landeskriminalamt NRW das Dezernat „Kriminalprävention, Polizeiliche Kriminalstatistik, Evaluation, Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle“, wo sogenannte „Angsträume“ genauer erforscht werden. Im Interview mit Verena Lörsch erklärt er, wo unsere Sorge begründet, und wo sie unbegründet ist.
Herr Kluxen, wovor fürchten sich die Menschen im öffentlichen Raum?
Die meisten haben Angst vor Diebstahldelikten oder dass sie unverschuldet angegriffen oder verletzt werden. Das hängt aber auch vom Alter ab: Ältere Menschen haben mehr Angst, dass man sie bestiehlt. Deshalb bewegen sie sich eher zwischen 10 und 17 Uhr im öffentlichen Raum, vermeiden den Personennahverkehr und gehen im Dunkeln gar nicht mehr raus. Junge Menschen sind da unbekümmerter, gehen gern raus, feiern in Diskotheken oder auf der Straße.
Ist diese Gruppe anderen Gefahren ausgesetzt?
Ja, bei jungen feiernden Menschen haben wir zum Beispiel das Problem mit den KO-Tropfen. Die Betroffenen – meist Frauen – wachen dann Stunden später ohne Gedächtnis auf und sind „im besten Fall“ nur ausgeraubt, im schlimmsten bedrängt oder vergewaltigt worden.
In Ihr LKA-Dezernat fällt die Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle (KKF). Was legt Ihre Forschung nahe: An welchen Orten fühlen sich Menschen sicher, und wo nicht?
Aus unseren Bevölkerungsbefragungen zum Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum geht hervor: Am Tag und im privaten Raum ist das subjektive Sicherheitsgefühl erhöht; nachts, im öffentlichen Raum und im Personennahverkehr sinkt es wiederum. Außerdem beeinträchtigen Schmuddelecken, vermüllte, schlecht beleuchtete oder menschenverlassene Orte das Sicherheitsgefühl.
Was ist aus Ihrer Sicht ein Beispiel für einen „unbegründeten“ Angstraum?
Ein Klassiker unter den Angsträumen ist der Friedhof, ganz egal ob tags oder nachts – da fürchten sich viele wegen des Grundproblems „tote Menschen“. Aber objektiv betrachtet, der Kriminalstatistik zur Folge, ist das gar kein Gefahrenort.
Was sind dagegen „berechtigte Angsträume“ – mit Blick auf die polizeiliche Kriminalstatistik?
An den Bahnhöfen großer Städte kommt es im Gedränge häufig zu Diebstählen. Das Gleiche gilt für Weihnachtsmärkte, auf denen viele Taschendiebe und Trickbetrüger unterwegs sind. Zu den Orten, an denen viel passiert, zählen auch Universitäten und Schulen, wo viele ihre Fahrräder unbekümmert abstellen oder schlecht sichern. Bei Fußballspielen gibt es außerdem oft Schlägereien, in die auch Unbeteiligte geraten.
Wenn das Unsicherheitsgefühl an vielen Orten so unbegründet ist, sind Angsträume für die Polizei überhaupt relevant?
Selbstverständlich nimmt die Polizei Angsträume sehr ernst. Über die Bezirksdienstkolleginnen und -Kollegen haben wir die Ohren an der Bevölkerung. Sie gehen durch ihren Bezirk und sind immer ansprechbar bei Nöten und Ängsten. Wenn sich Meldungen zu einem verwahrlosten Ort häufen, wird das an den Wachdienst und den zivilen Einsatztrupp weitergegeben – der schaut sich das genauer an. Die Polizei geht überall rein, wo sie gefragt und gefordert ist: zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Sprüche wie „No-go-Area“ oder „Da geht die Polizei nicht rein“ weise ich entschieden zurück. In bestimmten Situationen fahren wir zum Einsatz eben nicht mit einem, sondern mit fünf oder zehn Streifenwagen. (Lesen Sie hier, wie in Bochum ein Angstraum sicherer werden soll)
Wie erfassen Sie Straftaten im öffentlichen Raum?
In der Polizeilichen Kriminalstatistik gibt es den Oberbegriff „Straßenkriminalität“ – ein Sammelsurium von allerhand Straftaten. Im Jahr 2020 wurden 290.870 Straftaten aus diesem Bereich erfasst. Darin enthalten: Über 53.500 Fälle von „sonstiger Sachbeschädigung an Kfz“, aber auch 20 Fälle von „Beraubung von Taxifahrern“.
Wer forscht an der KKF?
Soziologen, Psychologinnen, Data-Scientists, Statistiker, aber auch Polizeibeamtinnen mit weiterführendem Studium – wir vernetzen den polizeilichen Sachverstand mit wissenschaftlicher Expertise und haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir führen unter anderem Dunkelfeldforschung durch und beauftragen dazu auch Meinungsforschungsinstitute. Wir wollen von Befragungsteilnehmenden beispielsweise wissen: Hatten Sie in den letzten zwölf Monaten Kontakt mit der Polizei? Sind Sie Opfer einer Straftat geworden? Haben Sie Anzeige erstattet – und wenn nicht, warum nicht? (Lesen Sie hier: KKF begleitet Clan-Aussteigerprogramm in Gelsenkirchen)
Forschen Sie aktuell zu Angsträumen?
Wir werten derzeit zehntausende von Daten aus der Befragung „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ (SKID) aus, die 2020 durchgeführt wurde. Dabei wurde abgefragt, wie sicher sich die Menschen – ohne Begleitung – im öffentlichen Raum, im ÖPNV, auf Straßen, Wegen, Plätzen, in der Innenstadt, in Parks, an Bahnhöfen, nachts beziehungsweise am Tage fühlen.
Können Sie schon von vorläufigen Ergebnissen berichten?
Nein. Wir erwarten 2022 den SKID-Abschlussbericht, der hoffentlich die Frage beantworten kann: Was beeinträchtigt das subjektive Sicherheitsgefühl? Wir erhoffen uns, daraus Erkenntnisse und Handlungsanweisungen ableiten und an die Polizeien und unsere Mitstreiter der öffentlichen Ordnung weitergeben zu können. (Lesen Sie hier: Helfen Kameras uns Streetworker in Buer?)
Gehören Angsträume zu jeder Stadt dazu? Bis zu welchem Grad lässt sich eine Stadt maximal sicher gestalten?
Maximal sicher wäre ja 100 Prozent – das kriegen wir im Ergebnis nicht hin. Es passiert immer irgendwas. In den größten Städten NRWs gibt es definitiv Angsträume, in kleineren Gemeinden beispielsweise in der Eifel wohl nicht. Denn man muss neben der städtebaulichen Kriminalprävention auch die soziale Kontrolle miteinbeziehen. In Köln, Dortmund oder Düsseldorf geht die soziale Kontrolle oft nur bis zur Wohnungstür. Vielleicht kennt man noch die Nachbarn, aber die im Nachbarhaus schon nicht mehr.