Ruhrgebiet. Gehen Physiotherapeuten, Unfallchirurgen und Orthopäden in der Corona-Krise die Patienten aus – weil es weniger Unfälle und Verletzte gibt?
Dem ersten Corona-bedingten Lockdown folgte die Erkenntnis: Wenn alle zuhause bleiben, sinken nicht nur die Infektionszahlen. Es passiert auch weniger. In NRW etwa gab es zwischen Januar und August 17,2 Prozent weniger Verkehrsunfälle als im Vorjahreszeitraum und 14,3 Prozent weniger Schwerverletzte. Die AOK Rheinland/Hamburg stellte bei ihren Versicherten zudem einen Rückgang der verletzungsbedingten Krankschreibungen um 58(!) Prozent fest.Bolzplätze, Sporthallen und Fitnessstudios waren ja auch dicht. Stürzt diese eigentlich gute Nachricht nun Physiotherapeuten, Unfallchirurgen und Orthopäden in die Krise?
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Die Abrechnungsdaten belegten für die Zeit von Mai bis heute einen durchschnittlichen Rückgang der Patientenzahl „um fünf bis zehn Prozent“, erklärt Jürgen Querbach, Geschäftsführer des Landesverbands für Physiotherapie. „Das hört sich wenig dramatisch an, ist aber erheblich für die betroffenen Praxen. Zumal die Lage regional unterschiedlich ist, die Zahlen teils sehr viel höher liegen.“
„Wir würden gern weiterbehandeln, aber wir dürfen nicht“
Betroffen seien vor allem Praxen, „und davon gibt es im Revier einige“, die viel oder ausschließlich mit Altenheimen und Senioreneinrichtungen arbeiteten. Querbach spricht von „großen, ungelösten Problemen“, die Kurzarbeiter- und Überbrückungsgelder nicht beheben könnten. „Manchen Krankengymnasten, die seit Jahren kommen, wird plötzlich der Zugang verwehrt, wir stoßen da auf massive Widerstände“. Beim Verband landeten in großer Zahl Klagen gleichlautenden Inhalts: „Wir würden gerne weiterbehandeln, aber wir dürfen nicht.“
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Bernhard Kaufmann ist Chef einer Krankengymnastik-Praxis in Altenessen, beschäftigt neun Physiotherapeuten und vier weitere Angestellte. „Wir sind bisher relativ gut durch die Krise gekommen“, sagt er. „Aber ich weiß, das ist nicht flächendeckend so.“ Während der ersten Welle sei es auch in seiner Praxis leer gewesen, musste auch er Kurzarbeit anmelden: „Lücken im Terminplan – kannten wir gar nicht. Bei uns wartet man normalerweise vier Wochen.“ 28 Jahre sei er jetzt selbstständig, so eine Situation habe er „noch nie erlebt“.
„Es ist anstrengend, in Schutzkleidung zu arbeiten“
Inzwischen habe sich die Lage beruhigt. „Wir dürfen ja auch wieder in die Heime“, berichtet Kaufmann. Ihn freut das, nicht nur für sein Team, sondern auch für die Bewohner der Heime. „Der erste Lockdown hat das Leben für viele Ältere und ihre Familien enorm erschwert“, sagt der Physiotherapeut und erzählt von jenem Mann, der seinen dementen Vater ein letztes Mal besuchen durfte, bevor dieser starb. Aber da erkannte der alte Mann seinen eigenen Sohn nicht mehr, er hatte ihn „vergessen“, weil er das Kind so lange nicht gesehen hatte. „Und damit muss der Sohn nun fertig werden.“ Auch aus therapeutischer Sicht hadere er mit der Schließung von Heimen, sagt Kaufmann. „Wenn Sie Spastiken sechs, sieben Wochen lang nicht behandeln, dann bleiben da Schäden, die irreparabel sind.“
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Der Essener Physiotherapeut sagt über sich selbst: „Ich bin robust, ich steck was weg“. Doch einige seiner Mitarbeiter, weiß er, ärgert die „Selbstverständlichkeit“, mit der die Gesellschaft davon ausginge, dass Physiotherapeuten ihre Arbeit nach wie vor machten, „als gäbe es Corona gar nicht“, als bedeute das Virus nicht auch für diese Berufsgruppe eine besondere Belastung. „Es ist nicht angenehm, mit Maske, Handschuhen und Kittel körperlich zu arbeiten“, erklärt Kaufmann. „Man schwitzt darunter, ist eingeschränkter in der Bewegung und es ist anstrengend.“ Doch „Videotherapien“, wie sie manche Praxen inzwischen anböten, seien für ihn keine Alternative. „Und bevor ich die Praxis zumache, trage ich doch lieber Schutzkleidung.“
Chirurgische Notaufnahmen waren leer: Viele mieden die Kliniken
Tatsächlich beobachteten auch Krankenhäuser im Revier, dass im Frühjahr ihre chirurgischen Notaufnahmen leerer als sonst waren. „Patienten mit minder schweren Verletzungen blieben weg, berichtet Jürgen Frech, Sprecher des Katholischen Universitätsklinikums Bochum (KKB). Das hatte, denkt er heute, „wohl auch mit der Furcht vor einer Ansteckung mit dem unbekannten Virus“ zu tun. Viele Patienten mieden während der ersten Pandemie-Welle sogar Arztpraxen. Doch diese Angst scheint überwunden: die Notaufnahme des KKB ist derzeit so voll wie eh und je.
Janosch Kuno, Sprecher des Berufsverbands für Orthopädie und Unfallchirurgie, bestätigt rückläufige Unfallzahlen für die Zeit des ersten Lockdowns. Und seither, ergänzt er, sei „das ursprüngliche Niveau der gefühlt nie wieder erreicht“ worden. „Eine relevante Verstärkung des Effekts durch den jetzigen Lockdown-light können wir bisher aber nicht feststellen.“
Auch das Homeoffice birgt Risiken, weiß der Therapeut
Der Essener Physiotherapeut Bernhard Kaufmann bleibt trotz allem optimistisch, was die Zukunft der Zunft angeht. Und das im Übrigen nicht, betont er, weil er nun in seiner Praxis deutlich häufiger als früher von neu aufgetretenen Rückenbeschwerden höre. „Aber auf Dauer rächen sich auch falsche Schreibtischhöhe oder falscher Stuhl im Homeoffice.“