Essen. Ab 7. Juni darf geimpft werden, wer will. Die bisherige Priorisierung gilt dann nicht mehr. Erleichterung oder noch mehr Stress für die Praxen?

„Ganz kurz“, sagt die Bochumer Hausärztin Dr. Andrea Rinke, sei ihr der Gedanke tatsächlich gekommen: Ob sie nicht einfach aufhören sollte mit dem Impfen, sie tut es ja freiwillig. Denn wenn ab 7. Juni gegen Corona geimpft werden darf, wer will, wenn die Priorisierung komplett aufgehoben sein wird, wie es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt ankündigte – dann werde es wirklich schwierig, fürchtet sie, „noch schwieriger, als es jetzt schon ist“.

Von „Hauen und Stechen“ um einen Impftermin spricht die Allgemeinmedizinerin; von Diskussionen mit Menschen, deren Bekannte „alle jünger, alle gesünder und alle längst geimpft“ seien. Früher schrieben ihr Patienten so gut wie keine Emails, heute täten sie es sehr „eifrig“, dazu klingele pausenlos das Telefon. Für Hausbesuche bleibe kaum Zeit, die Regel-Versorgung leide. „Dass ich mich nicht klonen kann, dass nicht genug Zeit für all die Aufgaben ist“, das ist derzeit ihr größtes Problem. Der Gedanke ans Aufgeben indes, er war „schnell wieder weg“. „Dafür“, sagt Rinke, „ist die Sache dann doch zu wichtig.“

Hausärzteverband erwartet „Massenansturm Impfwilliger auf die Praxen“

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Gut sieben Millionen Menschen in NRW haben inzwischen eine erste Corona-Schutzimpfung erhalten, fast zwei Millionen gelten als „durchgeimpft“. An die 2,5 Millionen aller Impfungen übernahmen niedergelassene Ärzte. Ab 7. Juni, hatte Spahn am Montagabend erklärt, dürften diese selbst entscheiden, wen sie wann impfen; auch für die Impfzentren werde die sogenannte Priorisierung, die Festlegung der Impfreihenfolge, aufgehoben. Zugleich sollen am selben Tag die Betriebsärzte mit dem Impfen beginnen.

Einen „Massenansturm Impfwilliger auf die Praxen“ erwartet der Hausärzteverband Nordrhein. „Wir heben die Priorisierung auf, ist leicht gesagt“, meint Sprecherin Monika Baaken. „Aber Hinweise, wie wir das umsetzen sollen, gibt es nicht.“ Die Ärzte hätten doch schon heute lange Wartelisten, die erst einmal erledigt werden müssten. „Da wurden Hoffnungen geweckt, die nicht zu erfüllen sind“, sagt Baaken. Sie nennt das „verantwortungslos“. Vielleicht entspanne sich die Lage aber, wenn zunehmend Betriebs-, Fach- und dann die Kinderärzte mit impften….

Apotheker fürchtet neue „Schieflage zulasten niedergelassener Ärzte“

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Im Juni werde die Impfkampagne „in eine neue Phase starten“, hofft auch Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein. Rund zwei Drittel der Impfungen würden dann in Praxen und nur noch ein Drittel in Impfzentren stattfinden. Zugleich warnt er vor einer neuen „Schieflage“: Von den Impfungen der Betriebsärzte profitierten hauptsächlich große Betriebe – mit eigenen Betriebsärzten. Die meisten Arbeitsplätze aber fänden sich in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Es gelte aufzupassen, dass „die Impfstoffe gerecht zwischen Haus- und Betriebsärzten aufgeteilt werden“.

Denn noch immer ist Impfstoff Mangelware.

Dr. Peter Kaup, einer der vier Geschäftsführer der „Sterkrader Gemeinschaftspraxis“: „Die Freigabe der Priorisierung macht mir keine Sorgen“, sagt der Hausarzt. Der Impfstoffmangel treibt ihn um.
Dr. Peter Kaup, einer der vier Geschäftsführer der „Sterkrader Gemeinschaftspraxis“: „Die Freigabe der Priorisierung macht mir keine Sorgen“, sagt der Hausarzt. Der Impfstoffmangel treibt ihn um. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Die Freigabe der Priorisierung macht mir keine Sorgen, sie ist nicht das Problem“, sagt Dr. Peter Kaup, Allgemeinmediziner in Oberhausen. Ob der Gemeinschaftspraxis, in der er mit sechs weiteren Ärzten und Ärztinnen arbeitet, ab Juni endlich ausreichend Impfstoff geliefert werde, beschäftigt ihn viel mehr. Einen Tag wie den letzten Montag nämlich will er nie wieder erleben. Den Tag, als er die Nachricht erhielt, statt der bestellten 400 Dosen Astrazeneca kommen nur 20. 200 Patienten waren da bereits für Impfungen einbestellt. „180 mussten wir anrufen, absagen, umplanen, neue Termine ausmachen. Wir fühlen uns wie eine Feuerwehr ohne Wasser!“

Er kann verstehen, sagt Kaup, dass Kollegen inzwischen das Handtuch geworfen hätten, beim Impfen nicht länger mitmachen wollten. Seine Ehefrau Heike, eine Gynäkologin, etwa will nur noch Zweitimpfungen „abarbeiten“. „Ich fühle mich von der Politik völlig veräppelt“, erklärt sie.

KVNO: „Dieses Signal hätte noch nicht jetzt kommen müssen“

Sven Ludwig, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO), bestätigt: Hauptproblem ist der Impfstoffmangel, „den Ansturm erleben die Praxen ja schon jetzt.“ Wer mit seinen priorisierten Patienten „durch“ sei, dürfe ja schon heute impfen, wen er für richtig halte. Durch Spahns Ankündigung sei der falsche Eindruck entstanden, dass ab 7. Juni plötzlich jeder „ganz zackig“ einen Impftermin erhalte auch wenn der Gesundheitsminister sich bemüht habe, dem entgegenzuwirken, meint Ludwig: „Dieses Signal hätte noch nicht jetzt kommen müssen.“

5136 Praxen im Bereich der KVNO beteiligen sich derzeit an der Impfaktion, fast 97 Prozent aller Hausarztpraxen und immer mehr niedergelassene Fachärzte, so Ludwig. Von Aussteigern hat er gehört, das seien aber Einzelfälle, womöglich auch Abmeldungen nur für die Zeit der Pfingstferien. „Kein konkreter Fall bekannt“ heißt es auch bei der KVWL, der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Die nach wie vor steigende Zahl der Impfungen in den Praxen weise sogar eher in die gegenteilige Richtung.

KVWL: Ohne Priorisierung kann schneller geimpft werden

Durch die Aufhebung der Priorisierung würden die Impfungen in den Praxen ja auch erleichtert, ergänzt KVWL-Sprecher Andreas Daniel: „Es entfällt die zeitraubende und belastende Suche nach impfberechtigten Personen in einer Gruppe, die oft schon an anderer Stelle geimpft wurde.“ Ohne Priorisierung könnten die Praxen den Impffortschritt erheblich beschleunigen. Natürlich nur – „wenn ihnen auch mehr Impfstoff geliefert wird“. Die Kollegen und Kolleginnen seien „mit großem Engagement und Einsatz am Impfprozess beteiligt – trotz der schwierigen Rahmenbedingungen“, betont Anke Richter-Scheer, Vorsitzende des Hausärzteverbands Westfalen-Lippe. Die Aufhebung der Priorisierung kam aber auch ihr zu früh, sie sei nur sinnvoll, „wenn Impfstoff in ausreichender Menge vorhanden ist“.

Essener Ärztin: „Jeder kämpft nur noch für sich selbst“

Eine ganz andere Sorge schließlich treibt eine Essener Ärztin um, die ihren Namen hier nicht lesen mag. Die Aufhebung der Priorisierung, ahnt sie, werde den Impfneid noch einmal „extrem erhöhen“. „Was der Kampf um die Impfstoffe mit den Menschen macht, ist schon erstaunlich“, erzählt sie. „Jeder kämpft nur noch für sich, als wenn es kein Morgen gäbe.“ Auf der anderen Seite, räumt sie ein, mache die Freigabe den „Job natürlich leichter“ – solange Impfstoff vorhanden sei: Auch sie bekam in dieser Woche statt der bestellten 100 Fläschchen Astrazeneca: bloß eines. „Hanebüchen“, sagt die Ärztin. Das neue Versprechen auf eine baldige Impfung für alle könnte ein leeres sein, fürchtet sie. Von dem nichts bleibe, als dass sie noch mehr Patienten sagen müsse: „Wir setzen sie auf die Liste!“ Denn natürlich werde sie auch nach dem 7. Juni nicht einen Ü-30-jährigen Kerngesunden vor jemandem impfen, der Diabetes und Bluthochdruck habe.

Die Essener Ärztin klingt erschöpft. Sie habe resigniert, sagt sie selbst. Sie mag nicht mehr kämpfen. „Ich muss jetzt auf mein Team achten. Wir sind wirklich am Ende.“

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Die Stimmung habe sich zugespitzt, je näher der Urlaub rücke und je mehr Freiheiten winkten, sagte Oliver Funken, Vorsitzender des Hausärzteverbands Nordrhein der Deutschen Presse-Agentur. Jeder wolle zu den drei „G“ gehören: Genesen, Geimpft oder Getestet.

Für die Sommerurlaubsmonate erwartet Funken weitere Probleme. „Wir müssen davon ausgehen, dass 30 Prozent der Arztpraxen in den Sommerferien (wegen Urlaubs, Anm. d. Red.) ein oder zwei Wochen schließen.“