Oberhausen. Noch sollen Hausarztpraxen nur Risikogruppen impfen. Das erfordert Planungsgeschick und Feingefühl – mit manch frustriertem Patienten.
Manchmal bekomme sie das Gefühl, in einem Hamsterrad zu sein, sagt Adisa Beganovic. Egal, wie viel sie arbeite, fertig werde sie ja doch nicht. „Wir haben im Vergleich zu früher bestimmt dreimal so viele Anrufe in der Praxis, dreimal so viele E-Mails und fast nur noch ein Thema: Impfen.“
Die 41-jährige Medizinische Fachangestellte sitzt in einem Hinterraum der „Sterkrader Gemeinschaftspraxis“ im Oberhausener Norden. Sie spricht schnell, lächelt und blickt mit einem Auge auf einem Bildschirm, auf dem schon die nächsten E-Mails einlaufen. 55.000 Patienten und Patientinnen stehen in der Kartei dieser großen Praxis - und ein nicht unerheblicher Teil möchte sich schnell gegen das Coronavirus impfen lassen.
Robert-Koch-Institut: Über 780.000 Impfungen in NRW-Arztpraxen
Es ist ein Dauerklingeln der Telefone, das die Praxen der rund 11.500 niedergelassenen Hausärzte in NRW dieser Tage begleitet: Seit drei Wochen sind die Allgemeinmediziner fest in die Impfstrategie des Landes NRW eingebunden. Sie sollen Menschen gegen das Coronavirus immunisieren, die laut Impfverordnung wegen einer bestimmten Vorerkrankung zur zweiten Risikogruppe gehören. Mehr als 780.000 der über fünf Millionen Impfungen in NRW haben bislang laut Robert-Koch-Institut bei der niedergelassenen Ärzteschaft stattgefunden.
Ab Juni könnte die Impfreihenfolge in NRW aufgehoben und Impfungen für alle ermöglicht werden. Das wird höchste Eisenbahn, heißt es von Fachleuten vor Ort. Impfstoffmangel und Priorisierung bringen viele Praxen in eine schwierige Lage – sie müssen Menschen vertrösten und entscheiden, wer innerhalb der Risikogruppen eine Impfung besonders nötig hat.
Allgemeinmediziner: Patientenkartei durchforsten - das ist nicht zu stemmen
Wie kann das gelingen? Nach drei Impfwochen ist der Allgemeinmediziner Peter Kaup überzeugt: „Jede Entscheidung, die wir treffen, ist irgendwo ungerecht.“ Kaup ist einer der vier Gesellschafter der „Sterkrader Gemeinschaftspraxis“, die mit sieben Ärzten und Ärztinnen und 21 Fachangestellten zu den größten in der Stadt gehört. Und er sagt offen: 55.000 Datensätze in der Praxiskartei erst auf Vorerkrankungen laut Impfverordnung hin zu durchforsten und dann unter den Betroffenen Abstufungen zu treffen – das sei nicht zu stemmen.
Und auch nicht zielführend: Wer wäre denn dann zuerst an der Reihe? Die alten chronisch Lungenkranken oder die jungen stark Adipösen? „Am Ende ruft mich eine Patientin an, deren Nachbar schon geimpft wurde, obwohl er aus ihrer Sicht gar nicht so krank ist wie sie.“
Unter dieser Mangelverwaltung leide das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, warnt er. In ihrer Ungeduld würden manche Patienten ausfallend, andere versuchten es gar mit Geld. Oft entlade sich viel Frust in der Praxis, sagt auch Mitarbeiterin Adisa Beganovic. „Am Anfang hatte man das Gefühl, hier geht es ums nackte Überleben.“ Wer einen Termin bekomme, sei indes oft sehr dankbar.
Praxis führt Warteliste mit 300 Namen
Impfungen sind für Hausärzte Alltag – was Mehraufwand bedeutet, ist der Impfstoffmangel. Das wird vor Ort in Oberhausen schnell deutlich: Eine genaue Anzahl an Impfdosen muss in der Vorwoche bestellt werden, Lieferzusagen gibt es erst am Montag der Impfwoche. In der Praxis gibt es statt detektivischer Nachforschung in der Datenbank eine Warteliste mit rund 300 Namen, die abgearbeitet wird. Welcher Impfstoff steht bereit? Welche Personengruppe betrifft das? Wer auf der Liste gehört dann auch noch zur Priorisierungsgruppe?
Berechtigte werden angerufen und beraten. Gerade, wenn es um den in Kritik geratenen Impfstoff der britisch-schwedischen Firma Astrazeneca gehe, sei der Bedarf hoch. Dokumente muss die Praxis ausdrucken, Patienten zur Abholung einbestellen und im schlimmsten Fall morgens eilig herumtelefonieren, wenn Impflinge abspringen und Ersatz gefragt ist – und all das neben dem regulären Praxisbetrieb.
Herzklopfen vor der Impf-Sprechstunde - und dankbare Patienten
„Bevor ab 12 Uhr geimpft wird, habe ich immer Herzklopfen“, gesteht Julia Tackenberg, die sich in der Praxis um diese Abläufe kümmert. Die Allgemeinmedizinerin (38) kennt die Tücken des Systems und beklagt manch starres Konstrukt. „Ein großes Thema sind die Zweitimpfungen, die auf den Tag genau bei der Erstimpfung festgelegt werden müssen.“ Nicht aus medizinischer Sicht, sondern aus rein logistischen Gründen, sagt sie. Wer zur Zweitimpfung nicht könne, erhalte auch die erste Dosis nicht.
Dann muss es schnell gehen: Gerade einmal eine Stunde sei es her gewesen, dass er den Anruf erhalten habe, sagt an diesem Mittag ein 52-jähriger Oberhausener. Er könne vorbeikommen, es gebe kurzfristig Kapazitäten, habe es am Telefon geheißen. „Da geht der Puls hoch.“ Auf der Arbeit Bescheid geben, die Frau anrufen, rein ins Auto – wo am besten parken? Jetzt lacht er. „Das war hektisch. Aber schön.“
So lange schon habe das Paar auf diesen Tag gewartet - nun, dass es geimpft ist, wolle es damit genauso wenig hausieren gehen wie zuvor mit der Erkrankung, die zur frühen Impfung berechtigt hat. „Wir verhalten uns wie sonst auch“, sagt der 52-Jährige. „Wir wollen keine Privilegien, nur ein bisschen mehr Sicherheit für uns. Und bitte keinen Neid.“