Ruhrgebiet. Erst wollte ihn zu wenige, jetzt zu viele: Hausärzte müssen in dieser Woche oft Patienten enttäuschen, die mit Astrazeneca geimpft werden sollten
Astrazeneca, die unendliche Geschichte: zunächst als Corona-Impfstoff zugelassen nur für Jüngere; nach dem Auftreten von Hirnvenenthrombosen und sogar Todesfällen dann komplett ausgesetzt; anschließend wieder freigegeben – ausschließlich für Ältere. Als „Impfstoff zweiter Klasse“ blieb das Vakzin daraufhin oft liegen, bis es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Anfang des Monats freigab für jedermann und jedefrau, ohne Priorisierung; zudem erlaubte, das Intervall zwischen Erst- und Zweitimpfung von zwölf auf vier Wochen zu verkürzen. Und plötzlich ist der gern geschmähte ein sehr gefragter Impfstoff. Leider: Wird er derzeit nicht in der erwarteten Menge an die Praxen geliefert...
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„Wir sind stinksauer“, sagt der Wittener Hausarzt Dr. Arne Meinshausen, zugleich Geschäftsführer der Ärztlichen Qualitätsgemeinschaft Witten (ÄQW). „Das kann’s nicht sein. Letzte Woche heißt es, Ihr könnt Astrazeneca in unbegrenzter Menge bestellen, mindestens 50 Dosen werden zugesagt. Und am Freitag erfahre ich dann, es kommen nur zehn.“ Landesweit geht es Praxen ähnlich, müssen Patienten angerufen, Termine abgesagt oder verschoben werden. „Und das ist sehr viel Arbeit, ein enormer logistischer Aufwand“, betont Meinshausen. Die Patienten „drängelten“ ja, Astrazeneca sei inzwischen „der Renner“, das Interesse an dem Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers sei seit der Freigabe „deutlich gestiegen“.
„Schon zuvor waren die Lieferungen nie so verlässlich wie die von Biontech“
Um 30 Prozent gegenüber der Vorwoche – sagt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein. Gleichzeitig lieferte Astrazeneca weniger als versprochen, bundesweit statt der versprochenen eine Million Impfdosen nur 700.000. Das erkläre den aktuellen Engpass, zumal die Restbestände, die in einigen Praxen womöglich noch lagerten, in der Vorwoche aufgebraucht worden seien. Allerdings, räumt der Kölner Apotheker ein, „waren auch schon zuvor die Lieferungen von Astrazeneca immer mit einem Fragezeichen versehen, niemals so verlässlich wie die von Biontech.“
Mit zwei großen Kühlkisten sei seine Mitarbeiterin soeben „ausgeschwärmt“, erzählt Preis. Der Astrazeneca-Impfstoff werde immer montags angeliefert und dann an die Praxen verteilt. Mehr als zehn, maximal 20 Dosen würden es heute für keine sein. Bestellt worden war ein Vielfaches dessen, was der Großhändler liefern konnte. Manche Praxis, so Preis, „geht in dieser Woche ganz leer aus“. Wird es nach Pfingsten besser? „Wir hoffen es, denn in der letzten Maiwoche kommt der Impfstoff von Johnson & Johnson dazu und den kann man doppelt zählen.“ Denn – anders als bei allen anderen bisher zugelassenen Impfstoffen – reicht eine einzige Dosis Johnson & Johnson für den vollen Schutz vor einer Covid-19-Infektion. Der Vektorimpfstoff darf von Praxen in unbegrenzter Menge bestellt werden – wie Astrazeneca. Die „Generalprobe“ vor drei Wochen allerdings lief gar nicht gut, berichtet Preis: Die bestellten „J&J“-Vakzine kamen nicht, in den Praxen wurde stattdessen Astrazeneca verimpft...
„Verteilung der Impfstoffe gleicht einer Lotterie“
Auch Monika Baaken, Sprecherin des Hausärzteverbandes Nordrhein, ist verärgert. „Vor einer Woche fürchteten viele noch, auf Astrazeneca sitzen zu bleiben, nun ist zu wenig da – und es wird nicht nachgeliefert.“ Dabei sei für viele Menschen die Freigabe des Astrazeneca-Impfstoffs ein richtiger „Befreiungsschlag“ gewesen, „ein bisschen Normalität für die Jüngeren, oder die, die ohne Priorisierung, sonst noch Wochen auf ihre Impfung hätten warten müssen“. Baaken ist skeptisch, ob Johnson & Johnson wirklich liefere. „Angekündigt worden ist schon vieles… Man kann da nur orakeln. Doch die Praxen brauchen jetzt Verlässlichkeit, sie können nicht länger in solcher Unsicherheit arbeiten.“
„Der Frust ist tatsächlich sehr groß“, bestätigt Dr. Rolf-Günter Westhaus, Sprecher des Apothekerverbandes Essen. „Jetzt könnten wir richtig loslegen, haben Impfstraßen eingerichtet und alles. Und dann kommt statt der bestellten Höchstmenge ein einziges, lächerliches Vial Impfstoff.“ Zehn Dosen könnten aus einem solchen Fläschchen gezogen werden. 520 Menschen könnte er pro Woche impfen, sagt Westhaus. Ihn ärgert, dass „jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird“, dass auf die Zusagen kein Verlass sei. Die Verteilung der Impfstoffe gleiche mittlerweile einer „Lotterie“, so Westhaus.
„Mit Astrazeneca verhandeln wir dann gar nicht mehr“
Mehr als sieben Millionen Menschen in NRW sind inzwischen wenigstens einmal geimpft, in den Arztpraxen fast 70 Prozent mit dem Vakzin von Biontech/Pfizer, sagt Thomas Preis. Im kommenden Jahr wird seiner Ansicht zufolge „sowieso noch mehr mit mRNA-Impfstoffen gearbeitet. Astrazeneca bestellt die EU dann gar nicht mehr.“ Probleme für die, die in diesem Jahr ein- oder auch schon zweimal den schwedisch-britischen Vektorimpfstoff erhalten haben, bedeute das nicht. „Die große Oxford-Studie wird bestätigen, was wir ahnten: Die heterologe Impfung (mit zwei verschiedenen Impfstoffen), schützt vermutlich sogar besser als die homologe.“ Dass die Nebenwirkungen – Fieber und Gliederschmerzen – heftiger ausfielen, zeige schon, dass die Immunantwort besser sei. „Für eine möglicherweise fällige Wiederauffrischungsimpfung sehe ich keinerlei Probleme.“