Ruhrgebiet. Der Bund stellt den Hausärzten den Biontech-Impfstoff vorerst nur begrenzt zur Verfügung. Die Empörung ist gewaltig.
Arztpraxen sollen ab der kommenden Woche vorerst nur noch eingeschränkt Biontech-Impfstoff geliefert bekommen. Maximal sechs Vials „Comirnaty“ konnte ein einzelner Arzt bestellen, das entspricht 36 Einzeldosen. Für den Impfstoff Vaxzevria des Herstellers Astrazeneca gab es keine Obergrenze. Vor allem die Hausärzte in NRW, die mittlerweile deutlich mehr Impfungen übernehmen als die Impfzentren, sind empört. „Wir fühlen uns wie Resteverwerter“, regt sich etwa die Essener Internistin Dr. Susanne Weber auf. „Wir sollen nun das Zeug unter die Leute bringen, das in den Impfzentren liegen bleibt.“
Was die Verärgerung befeuert: In der zweiten Mai-Woche sind in den niedergelassenen Praxen die ersten Zweitimpfungen fällig – für diejenigen, die gleich zu Beginn der Impfaktion dort zu Ostern ihre erste Dosis Biontech erhalten hatten. Damals ging an die Hausärzte ausschließlich dieser Impfstoff. Die Praxen fürchten nun, dass kaum noch Biontech-Impfstoff für Neu-Impfungen übrig bleibe. „Wir fahren sowieso schon mit angezogener Handbremse – nun auch noch das!“, stöhnt Monika Baaken, Pressesprecherin des Hausärzteverbands Nordrhein.
Auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Dr. Frank Bergmann, äußerte sich am Montag zornig: „Die Niedergelassenen“, erklärte er, hätten sich auf die Lieferzusagen des Bundes verlassen. Nun sei der in der Pflicht, seinen Ankündigungen „Taten folgen zu lassen“.
Tränenausbruch mitten in der Praxis
„Jipiiee“, hätten sie geschrien, erzählt Dr. Susanne Weber – an jenem Tag, als ihrer Praxis in Essen-Haarzopf eine Sonderlieferung Astrazeneca avisiert wurde. „120 Einzeldosen extra sollten wir bekommen. Großartig, dachten wir!“ Man räumte einen ganzen Tag frei, um die Lieferung verimpfen zu können. Rief alle einbestellten „normalen“ Patienten an, entschuldigte und erklärte sich, machte neue Termine für die Betroffenen. Suchte parallel dazu auf den langen Listen derjenigen Patienten, die geimpft werden wollten, 120 geeignete Kandidaten aus; rief sie an, vereinbarte exakte Termine, klärte über Nebenwirkungen und Risiken auf, holte Einwilligungserklärungen ein. Und war happy. Bis zwei Stunden vor der Lieferung der Anruf kam: Ihr kriegt nur 40 Dosen.
In diesem Moment, sagt Susanne Weber, eine gestandene Frau und Ärztin, sei sie zum ersten Mal mitten in ihrer Praxis in Tränen ausgebrochen.
„Impfkampagne darf keine Achterbahnfahrt sein“
5.000 Arztpraxen in ganz Deutschland beteiligen sich inzwischen an der Impfaktion . Als „Gamechanger“ im Kampf gegen die Corona-Pandemie werden sie gefeiert. Umso größer daher nun die Wut darüber, dass ihnen ab kommender Woche weniger Impfstoff des Herstellers Biontech geliefert wird als zunächst zugesagt, als erhofft – während Astrazeneca-Einheiten in jeder beliebigen Menge bestellt werden dürfen.„Die Impfkampagne darf keine Achterbahnfahrt zu Lasten von Patienten und Praxen sein“, erklärte der Vize-Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Stephan Hofmeister. Die Praxen bräuchten „Verlässlichkeit“ und „Unterstützung“ seitens der Politik, „damit Deutschland beim Impfen nicht aus der Kurve fliegt“.
Susanne Weber sieht das genauso, alle Hausärzte sähen das so, sagt sie: Für die laufende Woche und für die große Hausarzt-Praxis, die sie gemeinsam mit einem zweiten Internisten betreibt, hat sie zweimal sechs Vials Biontech geordert und zehn Fläschchen Astrazeneca (aus denen sie 120 einzelne Dosen ziehen kann). An die 2800 Kassenpatienten plus Privatpatienten behandeln die beiden Ärzte pro Quartal, doch: Mehr war nicht erlaubt.
Geliefert wird nicht das, was bestellt wurde
Weber erhielt: alle zehn Fläschen Astra, aber nur acht Vials Biontech. Denn die tatsächliche Liefermenge des Biontech-Präparats ist abhängig von der Anzahl der bestellenden Ärzte insgesamt.
Auch interessant
Ab Mai gehe dieser mRNA-Impfstoff in NRW vor allem an die Impfzentren, teilte das Landesgesundheitsministerium in der vergangenen Woche auf Anfrage mit. Das Astrazeneca-Präparat erhielten diese dafür nur noch in der Menge, „die für Zweitimpfungen für über 60-jährige benötigt werden“. Auch für die Beschaffung und Lieferung des Impfstoffes an die Arztpraxen ist allerdings der Bund zuständig.
Mängelverwaltung statt Durchimpfen
400 Impfungen pro Woche seien in ihrer Gemeinschaftspraxis locker zu schaffen, sagt Weber. „Man muss uns nur lassen.“ Für die kommende Woche bestellte die Internistin erneut die maximal erlaubte Menge von zweimal sechs Vials Biontech und 30 Fläschchen Astra. Da gibt es vorerst keine Obergrenze mehr. Und der Vektorimpfstoff bleibt in Haarzopf nicht liegen, „nicht eine einzige Dose“, sagt Weber. Im Gegenteil: Inzwischen interessierten sich immer mehr Jüngere, „auch viele Sportler“ dafür.
Am Donnerstag wird Weber erfahren, was ihr wirklich geliefert wird. Für die Zweitimpfungen werden die zwölf bestellten Biontech-Dosen komplett „draufgehen“, das weiß sie schon jetzt. Wieder wird sie Patienten vertrösten müssen. Sie findet das „unfassbar und erschreckend“. „Wenn wir wüssten, wir bekämen 100 Dosen Biontech, vier Wochen lang – damit könnte man planen“, sagt die Essener Ärztin, „aber so: ist das alles nur Mängelverwaltung und ein Lotteriespiel zulasten von Praxen und Patienten“.
„Der Wettbewerb zwischen Praxen und Impfzentren ist unnötig“
„Jeder Hausarzt sollte bestellen dürfen und erhalten, was er braucht“, meint Monika Baaken, Sprecherin des Hausärzteverbands Nordrhein. „Denn er hat den besten Überblick, kann anhand seiner Patientenakten am besten einordnen: wer braucht welchen Impfstoff am dringendsten?“ Dass derzeit eine Art „Impfwettbewerb“ zwischen Impfzentren und Praxen entstehe, sei absolut „unnötig“. Unfassbar aber auch, dass in den Impfzentren Impfstoff liegen bleibe, während es gleichzeitig in den Praxen lange Wartelisten gebe. „Geradezu absurd“, betont Baaken, sei die Vorgabe des Bundesgesundheitsministeriums, dass „Chroniker“ sich beim niedergelassenen Arzt das Attest holen müssen, mit dem sie im Impfzentrum priorisiert geimpft werden könnten. „Selbst wenn man an der Priorisierung festhalten will, könnte man diese Patienten doch beim selben Gespräch in der Praxis gleich impfen!“
Hausärzte übernähmen, ergänt Baaklen, den „Wahnsinnsanteil an der Beratung“, gerade im Hinblick auf den umstrittenen Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers Astrazeneca. „Das ist ein guter Impfstoff“, sagt Baaken. „Und wir klären in den Praxen darüber auf, raten dazu, wenn unserer Einschätzung nach ein Patient in Frage kommt.“ In den Impfzentren gäbe es dafür „kein Zeitfenster“ und viele Patienten vertrauten ihrem Hausarzt in dieser Frage auch mehr als einem fremden Mediziner. „Doch das kann nicht heißen, dass wir nun nur noch Astrazeneca geliefert bekommen!“
“Wir malochen wie die Stiere“
„Wir malochen seit einem Jahr wie die Stiere“, berichtet Weber. „Wir sind nicht am Limit, sondern längst darüber hinaus.“ Eine Extra-Kraft hat sie schon eingestellt und sei doch nicht selten bis Mitternacht in der Praxis, beantworte Patienten-Mail auch am Wochenende. „Und meine Mädels“, sagt die Ärztin, „laufen sowieso auf dem Zahnfleisch!“ 20 Euro bekommt die Ärztin für eine Impfung. Sie investiere das Geld „in Schokolade und Boni“ für ihre MItarbeiter. Sie kenne Kollegen, die wollten sich all das nicht oder nicht mehr antun. Auch sie selbst, gesteht sie, habe schon überlegt, das Handtuch zu werfen. „Aber dann“, sagt sie, „kam wieder die Ärztin durch, die helfen will.“