Bochum. Betroffene haben 1000 Fragen nach der Entlassung aus der Klinik. Hausärzte sind oft die ersten Ansprechpartner. Bochumer Forscher wollen helfen.
Mit heftigen „Leibschmerzen“ landet die alte Dame in der Notaufnahme der Chirurgie. Sie wirkt verwirrt, kann kaum erklären, was genau sie plagt. Es sind Nierensteine, stellen die Ärzte fest, operieren. Wenige Tage später wird die alte Dame entlassen, ohne Nierensteine und Schmerzen. Dafür mit der Erst-Diagnose „Demenz“. Was nun?
An diesem Punkt setzt „MeDeKa“ (Hausärztliche Betreuung von Menschen mit neu gestellter Demenzdiagnose nach Krankenhausentlassung) an, ein Forschungsprojekt der Ruhr-Universität Bochum. Ein interdisziplinäres Team um Prof. Horst Vollmar, Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin an der RUB, die Soziologin und Ethikerin Prof. Ina Otte sowie die Pflegewissenschaftlerin Dr. Nino Chikhradze will untersuchen, wie die Versorgung zu verbessern ist, größeres Verständnis auf Seiten der Hausärzte erreichen und eine praxisorientierte Handreichung für sie entwickeln. Dazu werden unter anderem intensive Interviews mit jeweils 15 Ärzten und Patienten geführt.
Arzt und Patient sind gemeinsam alt geworden
„Auf die Hausärzte kommt es in einer solchen Situation an“, sagt Vollmar. Sie kennen die Patienten seit Jahren, oft Jahrzehnten, sind „Vertrauenspersonen“ -- scheuen sich allerdings vielleicht gerade deswegen, das heikle Thema anzusprechen. „Das ist in der Tat so, das hat ein Kollege erforscht“, berichtet der Bochumer Forscher. Arzt und Patient seien „gemeinsam alt geworden“, man wolle niemanden stigmatisieren, habe vielleicht eigene Ängste. „Doch es ist sehr wichtig, eine Demenz frühzeitig zu thematisieren. Denn in der Frühphase lassen sich noch wichtige Weichen stellen. Und dann hat der Betroffene noch die Chance, das selbst zu organisieren.“
Natürlich gebe es auch in vielen Kliniken Sozialarbeiter, die sich kümmerten. „Aber die Liegedauern sind so kurz geworden...“, da bleibe kaum Zeit für die vielen Fragen, die Organisation eines neuen Alltags. Die meisten Patienten, sagt Vollmar, wollten unbedingt wieder nach Hause. „Das ist die größte Sorge.“ Zweitwichtigstes, „sehr relevantes“, Thema für die Betroffenen ist: das Autofahren.
Darauf zu verzichten falle sehr schwer, mit dem eigenen Wagen fürchten viele alte Menschen ihre Autonomie zu verlieren „gerade die, die auf dem Land leben“. Ihre Kinder dagegen plage die Sorge, dass der demenzkranke Vater irgendwann nicht mehr nach Hause fände oder jemanden überfahre. „Für viele Familien ist das eine sehr große Herausforderung“, berichtet Vollmar. Wissenschaftler in Düsseldorf widmeten dem Problem jetzt sogar ein eigenes Projekt.
„Schuldzuweisungen vermeiden, Kompromisse finden“
Der Bochumer Forscher war lange selbst als Hausarzt in Oberhausen und Duisburg tätig. Es ist wichtig, lernte er, mit den Patienten selbst über solche Dinge, aber auch über Medikation, Therapie, häusliche Versorgung oder Patientenverfügung zu sprechen -- nicht nur mit deren Angehörigen. Auf einem Kongress, erzählt er, habe er einmal einen Mann getroffen, der klagte, seit seine Demenz diagnostiziert worden sei, rede man nur noch über ihn, und keiner mehr mit ihm. „Das darf nicht passieren“, sagt Vollmar, noch immer berührt. Familienkonferenzen seien eine sehr gute Methode herauszufinden, was machbar ist, wenn etwa die Lage-Einschätzung von Patient („Ich will zuhause bleiben und ich schaff das alleine“) sowie Tochter („das wird nicht funktionieren und ich kann nicht jeden Tag dreimal vorbeikommen“) auseinander gehen. „Oft lässt sich eine für alle akzeptable Lösung finden, wenn man Schuldzuweisungen vermeidet.“ Ein typischer Kompromiss: Statt des Pflegedienstes zunächst nur eine Putzhilfe zu engagieren.
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Die in den Augen Vollmars wichtigste Aufgabe des Hausarztes nach einer in der Klinik erfolgten Erstdiagnose „Demenz“ aber ist es: sie zu verifizieren, zu schauen, ob sie korrekt ist. Denn Delir, Depression und Demenz seien schwer voneinander zu unterscheiden, „vor allem, wenn man den Patienten nicht so gut kennt und in einer Akutsituation andere Fragen sicher wichtiger sind“. Gelegentlich würden sogar Menschen, die lediglich schlecht hörten oder sähen, für kognitiv eingeschränkt gehalten, manchmal sorgten Medikamente für Demenz-ähnliche Symptome.
„Jede Demenzdiagnose muss überprüft werden“
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„Streng genommen“, so Vollmar, müsse jede Erst-Diagnose überprüft werden: „Denn von Demenz darf man nur sprechen, wenn die erkennbaren kognitiven Defizite über einen Zeitraum von sechs Monaten persistieren.“ In den USA lernte Vollmar einst einen Mann kennen, dem nach einem Unfall eine Demenz attestiert worden war. Er litt darunter sehr. Ein Jahr später zeigte ein entsprechender Test beim Hausarzt: Die Klinik lag falsch. Die (andauernden) Einschränkungen des Mannes waren nicht auf eine Demenz, sondern auf eine Bewusstseinstrübung, ein Delir, zurückzuführen. Eine solche Falschdiagnose nennt Vollmar „fatal“, sie werde sehr oft als sehr stigmatisierend empfunden. Wie häufig passieren sie? „Häufiger“, sagt der Forscher. Konkrete Zahlen allerdings gebe es bislang nicht. „Vielleicht klären wir das mal in einer neuen Studie.“
„Schwarz auf weiß“ sollen die „MeDeKA“Empfehlungen am Ende vorliegen, bei Aus- und Fortbildungen verwendet werden. Dabei, räumt Vollmar ein, seien Ärzte durch ihr Studium durchaus gut auf die Betreuung Demenzkranker vorbereitet. „Aber vielleicht“, ergänzt er, „ist das auch keine Frage von Wissen. Sondern eine der Einstellung.“
>>>INFO: Das Projekt „MeDeKa“
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft fördert das auf 18 Monate angelegte Forschungsprojekt mit 80.000 Euro. Start ist im April.
1,6 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Demenzerkrankung. Jährlich erkranken 300.000 neu.