Lünen. Ende des Jahres läuft das Modellprojekt „Sport für Menschen mit Demenz“ aus. Bereits jetzt ist sicher: Viele der 73 lokalen Angebote werden nach der dreijährigen Testphase fortgeführt.
Kurt hat ein kaputtes Knie. Er ist alt, fast 86, und ein wenig verwirrt. Und jetzt ist er schon wieder gestürzt; liegt hier, in Lünen, rücklings auf dem Boden. Und strahlt. „Nochmal?“, fragt er beim Aufstehen. „Klar“, sagt Andreas Dolheimer, sein Judotrainer. Schließlich wollen auch Edith (75), Udo (69) und Gisela (87) die „Fallschule rückwärts“ lernen. Könnte ja nützlich sein, wenn man mal stürzt.
Zusammen mit dem Caritas-Verband Lünen-Selm-Werne beteiligt sich der JC Lüdinghausen am landesweiten Modellprojekt „Sport für Menschen mit Demenz“. Seit etwa zwei Jahren bieten die beiden „Tandempartner“ einen Judokurs für Betroffene an. Auch wenn sie ihn heute lieber „Sportübungen bei dementiell veränderten Menschen zur Steigerung der Lebensqualität“ nennen. „Kampfsport für Demenzkranke, das war schwer zu vermitteln“, erklärt Henrik Nagel-Fellerhoff, zuständiger Bereichsleiter bei der Caritas. Egal, wie man das Angebot nennt: Es funktioniert! „Fast schon zu gut“, grinst Nagel-Fellerhoff. Denn es gab Ärger. Als der Bus kaputt war, mit dem die Caritas ihre „Judoka“ zum Training fährt, und der Kurs ausfiel... „Die Teilnehmer freuen sich total auf diesen Termin“, weiß der Pflege-Manager. „Und wir erleben begeistert, wie sie fitter und reger werden.“
„Unsere Vereine suchten Orientierungshilfe“
Solche Erfahrungen sind es, auf die Dr. Georg Schick hoffte, Geschäftsführer des Modellprojekts und Referent des Behinderten- und Rehabilitationssportverbandes (BRSNW). Es ist die Antwort auf eine Frage, die immer mehr Sportvereine stellten: Was tun mit Menschen mit Demenz? „Wir merkten, unsere Vereine suchten Orientierungshilfen, der Bedarf war riesig“, erklärt Schick. Man holte die Landesinitiative Demenz-Service sowie weitere Partner (siehe Kasten) mit ins Boot und überzeugte das Gesundheitsministerium. Was nicht schwer war. „Die waren begeistert“, sagt Schick, „vor allem von der Idee unseres Tandemprinzips.“ Jedes Projekt muss danach von zwei Partnern getragen werden, einem aus dem Bereich des Sports, einem aus dem der Pflege.
In der Lünener Sporthalle ist darum neben Trainer Dolheimer an diesem Morgen auch Pflegekraft Barbara Leismann im Einsatz Sie sorgt dafür, dass niemand verloren geht; und dass alle genug trinken; am Morgen holt sie die Teilnehmer in ihren betreuten Wohnungen ab, am Mittag bringt sie sie heim. „Anfangs“, erinnert sich Andreas Dolheimer, „war das alles, was Kurt interessierte“. Der Senior habe nur unruhig an der Tür gestanden und gefragt, wo er sei, wer ihn abhole. Aber nach und nach fand Kurt wohl Gefallen am Fallen. Heute ist der alte Herr, der ein feines, weißes Hemd unter der Trainingsjacke trägt, mit sichtbarer Begeisterung dabei: „Fußballspielen geht ja nicht mehr“, erklärt er und deutet aufs Knie.
Tanztee, Cross Boccia, QiGong oder Hocker-Gymnastik
Andreas Dolheimer ist erst 27, aber Trainer seit mehr als zehn Jahren. Die Idee, alte Menschen mit Demenz zu sportlicher Aktivität zu bewegen, findet der Schwarzgurtträger „überfällig“, viel zu lange habe man sie zur „Bewegungslosigkeit erzogen“. Judo, sagt er, sei ideal für Senioren, wenn man die Übungen sorgfältig auswähle, Techniken gezielt an ihren Alltag anpasse. Die Fortschritte, die seine Schüler machten, seien beeindruckend – aber sicher nicht allein sein Verdienst. „Da wird eher so was wie ein Muskel-Gedächtnis aktiviert, denke ich.“
„Für das erste Projektjahr hatten wir auf 20 Bewerbungen Interessierter gehofft“, erinnert sich Georg Schick. 94 gingen ein! 73 lokale Projekte in ganz NRW erhielten eine Zusage: Vom Tanztee über Cross Boccia, Wandern und QiGong bis zur Hocker-Gymnastik ist alles dabei, was Spaß macht. Und Sinn. Es gibt „Sport auf Rädern“, da kommt der Trainer ins Heim; Kurse wie der in Lünen; und alles, was dazwischen denkbar und möglich ist. „Spiele, Sturzprävention, Übungen zur Körperwahrnehmung sowie Ausdauer- und Gymnastikangebote sind besonders gefragt“, sagt Schick.
Die Bewegung „streichelt ihre Seele“
Ende des Jahres läuft das Projekt aus, der Abschlussbericht der Uni Dortmund, die es wissenschaftlich begleitet, steht noch aus. Doch die ersten Ergebnisse bestätigten, was man zu bestätigen hoffte: Sport tut Menschen mit Demenz gut. Und zwar nicht nur ihrem Körper. „Sie werden ruhiger, fröhlicher. Viele leben richtig wieder auf“, sagt Schick. Weil, wie er so schön sagt, die Bewegung, die Teilhabe, die sie durch den Sport erfahren, ihre Seele streichele. Wichtig sei nur, dass das Angebot sehr genau den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werde. „Ein allgemeingültiges Rezept gibt es nicht!“
Andreas Dolheimer stimmt zu. Sehr feinfühlig entwickelt der junge Trainer für jeden einzelnen seiner alten Schüler gezielte Übungen. Schließlich sind nicht alle so fit wie Kurt. Gisela fragt er nach „der schlimmen Schulter“, bevor sie beginnt, mit den Armen zu kreisen. Udo mit dem breiten Kreuz ermuntert er, den Rollator stehen zu lassen und sich lieber mit ihm im Daumen-Randori (Kampf) zu messen; für Edith, die früher gern getanzt hat, lässt er Hildegard Knefs „Rote Rosen“ regnen. Dazu schickt er sie mit Kurt aufs „Parkett“: Hand in Hand, mit geschlossenen Augen, durch einen Hütchen-Parcours. Wenig später traut Edith sich auch an die „Fallschule“. „Gar nicht so schwer“, schnauft sie anschließend. „Wenn man dabei nur nicht so schwitzen müsste!“
Kurt sieht man nach zwei Stunden Sport die Anstregung kaum an, nur das weiße Haar ist ihm ein wenig verstrubbelt. „Wie“, fragt er beim Abschied erstmals und ganz leise, „komm ich denn jetzt eigentlich nach Hause?“