Brüssel. Der Fall des Belgiers Rom Houben erschüttert die Welt – 23 Jahre wurde er als Wachkoma-Patient behandelt, obwohl er bei Bewusstsein war. Kein Einzelfall, befürchtet ein belgischer Koma-Forscher. Viele Patienten mit schwerer Hirnschädigung würden die falsche Diagnose erhalten.

23 Jahre war Rom Houben gefangen in seinem eigenen Körper. Er sah Ärzte und Pfleger bei der Visite, lauschte dem Schwatzen der Krankenschwestern. Er bekam mit, wie seine Mutter ihm vom Tod des Vaters erzählte – und konnte nichts sagen. Er konnte überhaupt nicht reagieren, nicht das kleinste Zeichen geben, weder die Hände drücken noch den Kopf bewegen. Nicht einmal in Tränen ausbrechen. Nur Zuhören.

23 Jahre glaubten alle, der Belgier dämmere im Wachkoma dahin. Er habe zwar die Augen offen, nehme aber nichts mehr wahr, noch nicht einmal Schmerzen. Erst als der Neurologe Steven Laureys den Patienten in einen Computer-Tomografen schob, wurde der Irrtum bemerkt: Rom Houben war vollständig gelähmt, aber bei Bewusstsein.

Am Wochenende machte das Magazin „Der Spiegel“ den Fall publik, der gestern auch die belgische Öffentlichkeit überraschte. Denn eigentlich war alles schon vor drei Jahren ans Licht gekommen - damals hatte jedoch kaum einer Notiz davon genommen; wohl auch, weil die Beteiligten die Geschichte nicht an die große Glocke hängen wollten.

Jahre im Wartezustand

„Ich habe geschrien, aber es war nichts zu hören“, erzählt Houben in dem Bericht. Er beschreibt, wie die Wochen und Jahre mit Meditation übersteht, wie er gelernt hat, sich von seinem Körper abzukoppeln und sich als reines Bewusstsein zu fühlen. Er reiste mit seinen Gedanken in die Vergangenheit oder in ein besseres Dasein. Den Tag, an dem sein Zustand entdeckt wurde, bezeichnet er heute als seine zweite Geburt.

Inzwischen lebt der 46-Jährige in einem Pflegeheim im belgischen Zolder. Seine rechte Hand kann er wieder etwas bewegen und diese Freiheit nutzt er, um mit Hilfe einer Sprachtherapeutin auf einer Bildschirmtastatur zu schreiben. Irgendwann, das ist sein Traum, will er ein Buch schreiben. Über die Jahre im Wartezustand, und die Zeit davor.

In seinem ersten Leben war Rom Houben ein erfolgreicher Kampfsportler gewesen. Er hatte in Lüttich Ingenieurswissenschaften studiert und konnte vier Sprachen sprechen. Bis er 1983 mit seinem Auto verunglückte. Das Herz blieb stehen – sein Gehirn blieb ohne Sauerstoff. Houben war klinisch tot, die Rettungssanitäter reanimierten ihn. Aber weil er keine Reaktionen mehr zeigte, ordneten ihn die Mediziner als Wachkoma-Patient der hoffnungslosen Art ein. Sie glaubten nicht daran, dass sich sein Zustand bessern würde.

"Jeder Patient sollte mindestens zehnmal geprüft werden"

Der Neurologe Steven Laureys hatte allerdings Zweifel. Er leitet das Zentrum für Koma-Forschung an der Universität Lüttich, er gilt als einer der weltweit führenden Spezialisten auf dem Gebiet und wurde schon von den Anwälten Terri Schiavos um Rat gebeten. Die Amerikanerin starb 2005 nach 15 Jahren im Wachkoma, auf Wunsch ihres Ehemannes war die künstliche Ernährung eingestellt worden – ein Fall, der weltweit für Diskussionen und Empörung sorgte.

Laureys hat schon lange den Verdacht, dass viele Patienten mit schwerer Hirnschädigung erschreckend häufig die falsche Diagnose erhalten. Für eine Studie untersuchte er mehr als 100 Fälle in belgischen Kliniken und Pflegeheimen. 44 Patienten galten als vegetativ. Das bedeutet: Die Hirntätigkeit ist so stark vermindert, dass es keine bewusste Reaktion mehr gibt, nur noch unbewusste Reflexe. Doch es stellte sich heraus, dass 18 von ihnen sehr wohl ansprechbar waren, zumindest gab es nachweislich Bewusstseinsreste. Rom Houben ist der spektakulärste Fall, weil sein Gehirn noch fast vollständig funktionierte.

Jeder Patient sollte mindestens zehnmal geprüft werden, bevor man ihn endgültig als vegetativ einstuft, sagt Laureys. Seiner Ansicht nach werden Diagnosen oft viel zu schnell gefällt – und selten in Frage gestellt. Im Interview mit dem österreichischen Sender ORF erklärte er vor zwei Jahren, dass manche Patienten aus dem Koma wieder auftauchen und dabei verschiedene Stadien durchmachen. Außerdem gebe es das so genannte Locked-In-Syndrom – die Patienten sind bei vollem Bewusstsein, können aber nur noch ihre Augen bewegen. Dieser Zustand sei aber am schwierigsten zu diagnostizieren.

Rom Houben als Wunder der Medizin

Im Nachhinein ist es erstaunlich, dass Rom Houbens Geschichte jetzt erst für Aufsehen sorgt – bereits 2007 beschäftigte sich der flämische Regisseur Stijn Coninx in einem Dokumentarfilm mit spektakulären Fällen von Behinderungen. „To walk again“ erzählt die Geschichte des querschnittgelähmten Triathleten Marc Herremanns, der nach seinem schweren Unfall 2002 wieder zu trainieren begann und sogar als erster Rollstuhlfahrer den Iron Man auf Hawaii beenden konnte. In einer Szene ist auch Rom Houben kurz zu sehen – als Beispiel dafür, dass es immer wieder Wunder in der Medizin gibt.