Recklinghausen. Die Corona-Krise trifft Menschen ohne Wohnung besonders hart. Zuhause bleiben können sie ja nicht. Und werden noch mehr gemieden.

Melissa ist heute morgen aus der Schlafstelle für Obdachlose geflogen. Es gab wohl Zoff um die Belegung ihres Zimmers in der Nacht, Männlein, Weiblein, Dauergast, neuer Gast, ganz klar wird das nicht, jedenfalls musste sie mal laut werden. "Ich weiß nicht, wo ich heute abend bleiben kann", sagt die 39-Jährige.

Heute morgen sitzt sie noch im Anbau der kleinen "Gastkirche" in Recklinghausen, und deren Name ist Programm: Hier, in der Heilig-Geist-Straße in der Altstadt, ist sie die Anlaufstelle für Mühselige und Beladene; hier stand 1403 das erste Armenhaus der Stadt.

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"Zuhause ist, wo man zuletzt genächtigt hat"

Der gängige Rat der Corona-Zeit, "Bleiben Sie zuhause", lässt Melissa ratlos zurück: "Wo ist denn zuhause?" Christian, der mit im Raum sitzt, sagt es so: "Zuhause ist, wo man zuletzt genächtigt hat." Bei ihm ist Zuhause gerade ein vermülltes Privatzimmer im Recklinghäuser Süden, wo er bei dem eigentlichen Bewohner mit schlafen kann - mit zwei, drei anderen Männern noch. Wenn das das Ordnungsamt erfährt! Oder sind sie ein Haushalt? Nein, Corona-Regeln sind wohl nicht für Obdachlose gemacht.

Melissa ist wohnungslos und lebt seit fünf Jahren auf der Straße.
Melissa ist wohnungslos und lebt seit fünf Jahren auf der Straße. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Dies sind schwierige, sehr schwierige Monate für Obdachlose. "An jeder Ecke trifft die Corona-Krise diese Menschen, die sowieso schon in einer Krise sind, nochmal doppelt", sagt Sylvia Rietenberg vom Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW. Vieles sei weggefallen, was sonst deren Tag strukturiert habe.

Betteln ist derzeit sehr schwierig, weil die Straßen leer sind

Manche Suppenküchen, Schlafstellen und Tagesaufenthalte haben geschlossen oder wenigstens die Zahl der Hilfeempfänger beschränkt, aufsuchende Sozialarbeit fällt gerade aus, das Jobcenter ist nur noch online zu erreichen. Viele Geschäfte und alle Gaststätten sind geschlossen, wo man - man kennt sich ja manchmal, hat vielleicht einen festen Standort - sonst einen Kaffee oder ein Brötchen bekommen hätte oder zur Toilette hätte gehen können.

Melissa bettelt nicht, sagt sie, sie wolle nicht auffallen als Obdachlose. Aber natürlich kennt sie die Notlage von Betroffenen, die darauf angewiesen sind. "Im Moment sehr schwierig, weil alles so leer ist." Im Frühjahrslockdown gingen Obdachlose von Herne ins größere Bochum, einfach weil da mehr Menschen liefen - und die aus Bochum gingen nach Dortmund.

"Die Distanz zu den Leuten kommt von alleine, wenn man im Dreck liegt"

Benny hat gerade wieder eine Arbeit gefunden, aber das Thema Geld sieht er eher locker: "Ich hatte früher kein Geld für Deichmann und ich habe heute kein Geld für Deichmann." Und Christian, dem man die Notlage auch nicht ansatzweise ansieht, sagt: "Die Distanz zu den Leuten kommt von alleine, wenn man im Dreck liegt oder stinkt."

Ludger Ernsting kennt die Nöte genau. Der katholische Geistliche leitet die Gastkirche und das angeschlossene "Gasthaus", wo es Frühstück gibt, Duschen, Waschgelegenheiten, Gemeinschaft mit ihresgleichen und ganz viel ehrenamtliche Hilfe. "Unsere Gemeinde ist die Fußgängerzone", sagt Ernsting, und dass jetzt bis zu 20 Prozent mehr Hilfesuchende kämen: "Wo sollen sie denn hin?"

"Die Leute machen jetzt einen Riesenbogen um einen Obdachlosen"

Es gibt viele kleine Räume hier, auf die man die Menschen verteilen kann, und jetzt zusätzlich ein Zelt im Hof. "Die Stadt ist um 20 Uhr praktisch leer bis auf die Menschen, die keine sichere Tür haben", sagt Ernsting: "Das spiegelt wider, wie allein und schutzlos man ist. Das macht doch was mit den Menschen."

Er hat bei seinen Gästen eine "größere Niedergeschlagenheit" vorgefunden, auch, weil man sie meidet: "Die Leute machen jetzt einen Riesenbogen um einen Obdachlosen." Er könnte ja infiziert sein. Deshalb "setzen sich viele Obdachlose in Bewegung und gehen auf die Menschen zu, um um eine Spende zu bitten" - was wiederum Angesprochene in ihrem eigenen Stress als Übergriff empfinden: "Die Reaktionen sind manchmal harsch."

Kommunen haben für die kalte Zeit Zelte aufgestellt und Hotelzimmer gemietet

Und dabei ist es noch nicht einmal bitter kalt. Immerhin: Kommunen haben beheizte Zelte aufgestellt wie in Dortmund, haben Hotelzimmer gemietet für Obdachlose, Pendelbusse zu Schlafstätten, Ausweich-Quartiere auf Campingplätzen. Denn natürlich können auch Obdachlose Angst vor Corona haben und Sammelunterkünfte meiden.

Melissa hat noch immer keinen Platz für die Nacht gefunden. Sie träumt von "einem Bauernhof für Menschen wie mich, wo man frei sein kann, wo man laut sein kann". Und Christians Perspektive? "Selbst, wenn ich mal wieder eine Wohnung hätte, würde ich weiter in die Gastkirche kommen. Ich kenne hier alle. Und das Essen ist gut."