Ruhrgebiet. Viele Großbauten der 60er-Jahre gelten als Bausünden. Doch inzwischen finden auch sie ihre Fans. Und einer soll zeigen, wie schön sie mal waren.
Es ist ja ein großer Irrtum, anzunehmen, Denkmalschützer hätten irgendetwas mit der Vergangenheit zu tun. Für Knut Stegmann etwa – er ist selber einer – sind sie die Avantgarde, immer vorne mit dabei: „Denkmalschützer müssen als erste erkennen, welche Bauten man erhalten sollte,“ sagt er. Bevor diese Bauten abgerissen sind oder „alle sie schön finden“. Grässliche Vorstellung.
Stegmann (42) steht im Univiertel von Bochum, vor dem „Terrassenhaus Girondelle“: Das rund 200 Meter lange und bis zu acht Etagen hohe Haus ist „Denkmal des Monats“ beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Weil es typisch ist für einen Baustil der 60er-Jahre. Weil es durch unterschiedliche Wohnungsgrößen und Grundrisse damalige Utopien in Beton goß: „Jeder ist ein bisschen gleicher.“ Jeder hat wegen der zurückspringenden Geschosse eine eigene, uneinsehbare Terrasse.
„Manche feiern diese Bauten, andere finden sie furchtbar“
Die gewitzte PR-Abteilung der Stadt Babylon nannte schon vor Tausenden Jahren sowas nicht Terrassenhaus, sondern: „Hängende Gärten“. Das Haus ist ergraut, die originale Schönheit dahin. Aber Gebäude wie dieses kommen gerade wieder in Mode. Der Landschaftsverband nennt es: „Architektur 1960+.“
Nicht, dass noch jemand so bauen würde. Aber die Gebäude erfahren Anerkennung. Die Architektur und Stadtplanung der 60er-Jahre finde „immer mehr Fans“, heißt es bei der „Vereinigung der Landesdenkmalpfleger“: „Sie schätzen die wilde Rohheit des Sichtbetons und die kraftvollen Gesten der großen Baumassen.“ LWL-Mitarbeiter Stegmann sagt es so: „Manche feiern diese Bauten, andere finden sie furchtbar.“
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Jedenfalls holt der Denkmalschutz sie mehr und mehr unter sein rettendes Dach. Die Ruhr-Universität. Die künstliche Mitte von Castrop-Rauxel. Das Rathaus von Iserlohn. Der Mariendom in Neviges. Sogar das Rathaus von Marl hat sich dorthin geflüchtet: Nachdem jahrelang sein Abriss diskutiert worden war, beginnt nun gerade die Sanierung.
Geringe Mieteinnahmen führen zu schlechter Bauerhaltung
Die Ausstellung „Rettet die Betonmonster“ war 2019 erfolgreich in Deutschland unterwegs. Vielerorts sind sie aber auch wieder verschwunden („Neue Stadt Wulfen“), fristen ihr leerstehendes Dasein als „Horrorhaus“ (Dortmund) oder sind in schlechtem Zustand: Denn die etwas weniger gleichen Mieter sind schon vor Jahrzehnten ausgezogen, und geringe Mieteinnahmen führen zu schlechter Bauerhaltung. „Sanierungsstau und schlechtes Image, das ist lebensbedrohlich für diese Architektur“, sagt Tim Rieniets, der vormalige Geschäftsführer der Landesinitiative „Stadt Bau Kultur“ in Gelsenkirchen.
Brutalismus- Starke Betonarchitektur
Gänzlich unerwartete Hilfe kommt aus einer anderen Ecke: von Fotografen. Im Internet stehen Unmengen von Seiten mit Betonmonsterbildern, vor allem schwarz-weiße. Kanten, Flächen und Konturen reizen viele, davon Bilder zu machen. Und der milde Charme des Ruinösen, der heute von vielen dieser Bauten ausgeht, wirkt ebenso anziehend. „Ein hohes Maß an Anmut, ja sogar Grandezza“ sieht ein Berliner Student der Fotografie in den Gebäuden.
Die hängenden Gärten von Bochum
Als Baustil war es in den frühen 70er-Jahren schon wieder vorbei mit diesem Stil des Brutalismus. Zu groß, zu klotzig, zu wenig im architektonischen Gespräch mit der Umgebung. Der Name Brutalismus hat allerdings nichts mit ,brutal’ zu tun, obwohl das Missverständnis naheliegt; der Name leitet sich vielmehr ab vom französischen „béton brut“ – „Sichtbeton“. Nicht zu übersehen.
„Es gibt heute sogar Heimatvereine, die mich anrufen und aufmerksam machen auf solche Bauten“ , sagt Knut Stegmann, der Denkmalpfleger aus Münster. Für die Girondelle jedenfalls ist ein gutes Ende greifbar: Der neue Eigentümer sei demnach bereit, Reparaturen denkmalgerecht auszuführen, heißt es. Damit aus dem grauen, angeschlagenen Terrassenhaus wieder eine originalgetreue, weiße Schönheit mit leuchtend blauen Applikationen wird. Man kann auch sagen: Die hängenden Gärten von Bochum.