Essen. Wohnungen, Schulen, Rathäuser: Ein Architekturführer beschreibt das fortschrittlichen Bauen der 50er- bis 70er-Jahre zwischen Lünen und Duisburg.

Als es vor 2010 noch auf die Kulturhauptstadt zuging, fragte man sich im Ruhrgebiet, ob es nicht vielleicht eine gebaute Ikone bräuchte, mit der sich das gesamte Revier identifiziert – und mit der es von auswärts identifiziert würde. Damals war die Essener Zeche Zollverein trotz Welterbe-Status noch im Dornröschenschlaf und ihr Doppelbock-Fördergerüst hatte seine Karriere als schattenrisstaugliches Ruhrgebiets-Symbol noch vor sich. Überhaupt hat der Aufschwung der Industriekultur mit seiner Fixierung auf Montagehallen, Malakofftürme und Hüttenwerke für einen „blinden Flecken“ gesorgt, finden die Architekturhistoriker Tim Riniets und Christine Kämmerer. Um dem abzuhelfen, haben die beiden einen handlichen Führer über die Bauten der 50er- bis 70er-Jahre im Ruhrgebiet geschrieben.

Eine Zeit, in der das Ruhrgebiet anfangs noch Motor des deutschen Wirtschaftswunders und reich war. Architektur und Städtebau fielen ehrgeizig aus, es mussten neue, komfortable Wohnungen her, bildungsfreundliche Schulen, demokratische Rathäuser und freizeittaugliche Schwimmbäder, Universitäten, Kaufhäuser, Kirchen und Theater. Und einige örtliche Bau-Ikonen entstanden dabei doch: Die Essener Grugahalle, die ihre einmalige Schmetterlingsform bekam, weil sie ab 1956 auf den Fundamenten eines Vorgängerbaus errichtet wurde, der Dortmunder Florianturm, dessen Dreh-Restaurant 1959 das weltweit erste seiner Art war – im selben Jahr, als das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier mit seiner gläsernen Fassade und der Kunst am Bau von Yves Klein, Jean Tinguely und Norbert Kricke fertig wurde.

Hotspot des kühnen Bauens war Marl

Das Scheibenhaus von Herne am Hölkeskampring wird auch „Verrutschte Torte“ genannt.
Das Scheibenhaus von Herne am Hölkeskampring wird auch „Verrutschte Torte“ genannt. © FUNKE Foto Services | Gero Helm

Ein Brennpunkt des optimistischen, experimentierfreudigen Baustils ist die Stadt Marl, wo mitunter Architekturexperten aus der gesamten Republik anreisen und spätestens die Kontrolle über ihre Kinnladen verlieren, wenn sie nach der liebevoll restaurierte und mit Elan betriebene Scharoun-Schule die beiden Rathaus-Türme besuchen, die Anfang der 60er-Jahre auf Stelzen und mit vorgehängter Betonfassade den Reichtum einer der prosperierenden Bergbau- und Chemie-Stadt Ausdruck verliehen. Dass die Inneneinrichtung des Ratssaales jüngst in Robert Thalheims Agentenkomödie „Botschafter des Friedens“ als Verkörperung sozialistischer Macht mit verbleichendem Sowjet-Charme. diente und damit Drehorte in Berlin, Sachsen und Kasachstan ausstach, ist die Kehrseite der einstigen Fortschritts-Medaille.

Der wahre Schatz von Marl aber liegt Luftlinie 700 Meter weiter südlich: Die Wohnhügel, die ab Mitte der 60er-Jahre hier errichtet wurden: terrassenförmig zurückweichende Hochhäuser, bei denen vier große Wohnungen im Erdgeschoss liegen, vier kleinere darüber, im dritten Stock noch zwei und das Dachgeschoss aus einer Wohnung besteht. Insgesamt vier dieser begrünten Hochhäuser, die wie eine gebaute Naturlandschaft wirken, entstanden bis in die 80er-Jahre und sind bis heute ein äußerst begehrtes Wohnquartier. Pendants dazu sind die Girondelle in Bochum oder, in origineller Form, die „Verrutschte Torte“ am Hölkeskampring in Herne.

Pleiten, Pech und Pannen mit der Neuen Stadt Wulfen

Freilich blieben im optimistischen, versuchsfreudigen Bauen bis Ende der 70er-Jahre auch Pleiten, Pech und Pannen nicht aus: Die Neue Stadt Wulfen ein so ein weitgehend zurückgebautes Mega-Projekt , dem Luftkissendach auf dem Marler Stern ging öfters die Puste aus und die sachlich-kalte Beton-Bauweise der Bochumer Ruhruniversität wurde gar für Selbsttötungen verantwortlich gemacht, auch wenn die Universität selbst eine Häufung bestritt.

Überhaupt: Viele der damaligen Bauten wie die Mülheimer Volkshochschule oder das Karstadt-Haus in Herne sind heute – oft umstrittene -- Sanierungsfälle, die in die Millionen gehen. Und noch viel mehr von dieser Architektur ist zu unserem Alltag geworden, deren Qualitäten manchmal nur durch einen Schmutzfilm verborgen werden – auch nackter Beton, das wissen wir heute, will gepflegt sein, damit er wenigstens bei Sonnenschein seine Tristesse ablegt. Dass diese „Bauwerke, die ihren Platz in der Stadt der Gegenwart haben“, heute noch weniger wertgeschätzt als wahrgenommen werden, „liegt auch an dem mangelnden Wissen über diese Architektur“, schreiben Christine Kämmerer und Tim Rieniets. Ihr Buch schafft da eine erste, kundige Abhilfe – fast alle im Ruhrgebiet werden die heimatliche Kulisse durch diesen Führer mit anderen, neuen Augen sehen.

Christine Kämmerer, Tim Rieniets, StadtBauKultur NRW: Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im Ruhrgebiet. Als die Zukunft gebaut wurde. Verlag Kettler, 236 S., zahlr. farb. Abb., 25 Euro. Der Band ging aus der Kampagne „Big Beautiful Buildings“ im Jahr 2018 hervor.