Bochum. Wochenlang nichts, dann häufen sich die positiven Corona-Tests – in Kinderarztpraxen. Aktuelle Zahlen der Stars-Studie beunruhigen Mediziner.

„Corona ist angekommen“, sagt Dr. Folke Brinkmann, „auch bei Kindern und Jugendlichen.“ Die Kinderpulmologin, Oberärztin an der Bochumer Universitätskinderklinik, koordiniert zwei Studien zum Thema: CorKid und Stars. Ihre ersten Testergebnisse, ihr erstes beruhigendes Fazit „Kinder sind keine Virenschleudern“, hatten im Sommer mit dazu beigetragen, dass das Land Schulen und Kitas wieder öffnete. Jetzt beobachtet Brinkmann jedoch deutlich steigende Infektionszahlen auch bei den bis 18-Jährigen: „Und das sorgt mich“.

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Die Zahl der positiv abgestrichenen „Stars“-Kinder, die mit Symptomen zum Arzt kamen, habe sich seit September verzehnfacht, konstatiert die kommissarische Leiterin der Abteilung Pädiatrische Pneumologie. Der Wert stieg von 0,4 im September auf vier Prozent im Oktober an, steige weiter deutlich und liege, einer noch vorläufigen Auswertung zufolge, aktuell sogar bei über zehn Prozent. Allein am vergangenen Wochenende seien in der Notaufnahme der Kinderklinik vier positive Testergebnisse hinzu gekommen – bei zehn untersuchten Kindern.

Der jüngste Corona-Patient der Kinderklinik war erst 13 Tage alt

„Das ist immer noch wenig“, betont Brinkmann. Und Kinder seien auch nicht „infektiöser“ geworden. „Aber der Anstieg ist deutlich erkennbar.“ Mit etwas Verzug werde sich diese Entwicklung auch in der CorKid-Studie zeigen, für die Antikörper-Tests bei symptomfreien Kindern gemacht werden.

13 Tage alt war das jüngste Covid-positive Kind, dass die Ärztin stationär behandeln musste. „Es sind jetzt oft sehr kleine Kinder, die mit einer Coronavirus-Infektion zu uns kommen“, berichtet sie. „Und es sind nun ständig ein bis zwei Kinder da.“ In den Wochen zuvor habe die Kinderklinik kein einziges Corona-krankes Kind gesehen...

Kinderärztin aus Langendreer: Seit Ende der Herbstferien ist der Anstieg exponentiell

„Wochenlang „war nichts“, bestätigt Dr. Claudia Simon. Aber in der letzten Woche plötzlich auch in ihrer Praxis: sieben Covid-positive Testergebnisse bei 20 fiebernden, schniefenden, hustenden oder sonst auffälligen Kindern, die sie vorsichtshalber abgestrichen hatte. Die Kinderärztin aus Langendreer ist alarmiert: „Seit Ende der Herbstferien ist der Anstieg exponentiell.“

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Lia ist 14 – und als Probandin dabei: Freiwillig hat sie sich von Dr. Simon bei der „J1“, ihrer letzten Vorsorgeuntersuchung im Oktober Blut für die CorKid-Studie abzapfen lassen – zum ersten Mal in ihrem Leben. „War nicht schlimm. Tut nicht weh, schadet niemandem“, meint die Neuntklässlerin des Hildegardis-Gymnasiums. Ihre beiden Brüder Tim (16) und Matteo (6) sollen auch noch getestet werden, erzählt Mutter Carmela Sichtig. Sie hält die Studie für wichtig, sagt sie, sei auch „neugierig“ auf deren Erkenntnisse. Für den Moment können sie und ihre Tochter aufatmen: „Keine Antikörper in unserem Blut nachweisbar“, erklärt Lia.

„Aber endgültige Sicherheit gibt es keine. Man weiß ja nie, wo das Virus steckt“, glaubt Carmela Sichtig. „Ich fahre mit der Bahn zur Arbeit, mein Mann ist Polizist, die Kinder gehen in die Schule...“. Sie halte sich und ihre Familie nicht für besonders gefährdet, sagt die gebürtige Italienerin. Doch die Bilder aus Bergamo damals im Frühjahr und die Telefonate mit ihrer Schwester in Kampanien jetzt hätten sie „nachdenklich gemacht“.

Krankheitsverläufe sind noch immer mild, aber Ärzte warnen vor Leichtsinn

Dr. Folke Brinkmann ist Kinderpulmologin an der Bochumer Uni-Kinderklinik. Vor fünf Jahren kam die Ostfriesin ins Revier. Jetzt leitet sie zwei Studien zum Thema „Kinder und Corona“.
Dr. Folke Brinkmann ist Kinderpulmologin an der Bochumer Uni-Kinderklinik. Vor fünf Jahren kam die Ostfriesin ins Revier. Jetzt leitet sie zwei Studien zum Thema „Kinder und Corona“. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Die Krankheitsverläufe bei Kindern sind noch immer „in der Regel mild“, sagt Brinkmann. Doch Claudia Simon warnt alle Jugendlichen vor zu großem Leichtsinn. Denn einige treffe es doch hart. Eine ihrer Patientinnen etwa, „ein 16-jähriges Mädel, Leistungssportlerin, keine Vorerkrankungen“: Die hatte „ganz schön zu knappen, die kam hier die Treppe nicht mehr hoch. Erst jetzt geht es langsam wieder“, erzählt die Kinderärztin. Infiziert hatte sich das Mädchen beim Vater, im Februar. Und die Praxis der Ärztin, sie liegt im ersten Stock

Folke Brinkmann hält trotz der steigenden Zahlen Kinder und Jugendliche noch immer nicht für „Haupttreiber der Infektion“ und Schulen und Kitas nicht für „Hotspots“. Solange an den weiterführenden Schulen konsequent Maske getragen werde, könnten sie offen bleiben, findet sie. „Die Kinder haben durch die Schulschließungen schon so viel Unterricht verloren“, erklärt sie. „Und wir sehen hier auch die Folgen von Isolation, häuslicher Enge und Stress in den Familien.“ Einige der kleinen Ambulanz-Patienten mit Migrationshintergrund etwa hätten ihr Deutsch inzwischen verlernt. „Und vor einem Dreivierteljahr konnten wir uns mit denen noch prima unterhalten.“

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Ihre Kollegin Claudia Simon glaubt, dass man „erst die Spitze des Eisbergs gesehen“ habe: Im kommenden Jahr werde man wissen, welche Auswirkungen die Schulschließungen auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen gehabt habe. Vor allem um die, die 2021 Abitur machen, sorgt sich die Kinderärztin aus Langendreer. „Die sitzen schon jetzt mit Panik in den Augen vor mir.“ Gerade erst sei ein 16-Jähriger bei ihr in Tränen ausgebrochen. „Wie soll ich das nur schaffen, hat der immer wieder gefragt. Ein 16-Jähriger....“.

Mutter: „Die Kinder leiden doch am meisten“

Lia sagt, sie könnte es verkraften, wenn ihre Schule erneut auf Homeschooling umsteige. „Aber schön wäre das nicht, Lehrer und Klassenkameraden wieder nur per Chat oder Mail erreichen zu können.“ An die Regeln des Lockdowns werde sie sich deshalb halten – auch wenn sie „zwei beste Freundinnen“ habe. „Die Treffen zu dritt und der Sport werden mir fehlen. Aber ich schränke mich ein, ich trage die Maske. Ich denke, dann passiert mir nichts.“ „Kannst du nicht wissen“, meint ihre Mutter.

Carmela Sichtig hält den erneuten Lockdown auch psychologisch für entscheidend. „Weil die Menschen so vielleicht begreifen, wie ernst es ist.“ Aber sie hofft auch, dass er in vier Wochen überstanden ist – und dass die Schulen nie wieder geschlossen werden müsse; und dass ihr „Großer“, der 16-jährige Tim, sein abgesagtes Praktikum beim Finanzamt wird nachholen können; der kleine Matteo sich wieder unbeschwert mit seinen neuen Freunden aus der ersten Klasse treffen könne. „Die Kinder“, meint sie, „leiden doch am meisten. Ihnen hat Corona so viel genommen, was sie zum Großwerden brauchen.“

>>>>Info: Die Studien CorKid und Stars

Ein gutes Dutzend Kinderarztpraxen in ganz NRW, das Institut für Humangenetik und das für Virologie an der RUB beteiligen sich an der CorKid-Studie der Bochumer Universitätskinderklinik. Es ist die bundesweit größte, sie soll klären helfen, inwieweit Kinder an der Verbreitung des Corona-Virus beteiligt sind. Der Bund fördert das Projekt mit 566.000 Euro. Im Rahmen der Routine-Vorsorge-Untersuchungen wird Kindern (und ihren Eltern) dreimal Blut für einen Antikörpertest abgenommen, insgesamt sollen 3000 Kinder (ohne Symptome) zwischen sechs Monaten und 18 Jahren untersucht werden. Finden sich Antikörper im Blut heißt das, sie haben (womöglich unbemerkt) eine Sars-CoV-2-Infektion hinter sich. Die Ergebnisse gehen direkt ans RKI. Die Teilnahme ist freiwillig.

Für die Stars-Studie der Bochumer Kinderklinik sind in Kinderpraxen und Notfallambulanzen seit Mai 2800 Kinder mit teils heftigen Symptomen wie Fieber, langanhaltender Husten, Erbrechen oder Durchfall, auf Corona getestet worden. Bis Anfang August, bei den ersten 750 getesteten Kindern war nur eines positiv. Inzwischen sind es 49.