Leverkusen. Ein Großteil der für eine Studie befragten Kinderärzte beobachtet eine Zunahme der Beschwerden bei ihren kleinen Patienten – Corona-bedingt.

Kinderärzte schlagen Alarm: In der Corona-Krise beobachten sie zunehmend mehr körperliche, vor allem aber seelische Beschwerden bei ihren kleinen Patienten. Dies belegt eine Befragung von bundesweit 150 niedergelassenen Pädiatern im Auftrag der Pronova BKK, die 650.000 Versicherte betreut.

Jeder zweite Pädiater beobachtete in seiner Sprechstunde Verhaltensveränderungen: Antriebslosigkeit, Reizbarbarkeit oder Angststörungen etwa; fast jeder zweite berichtete von Aggressionen und Schlafstörungen. Vier von zehn befragten Ärzten beklagten sogar Corona-bedingte Entwicklungsverzögerungen bei ihren jungen Patienten.

89 Prozent der Pädiater beobachten psychische Beschwerden, 37 Prozent körperliche

Corona macht Kinder krank – auch, wenn sie das Virus gar nicht erwischt: Bittere Bilanz der soeben veröffentlichte Studie „Homeschooling und Gesundheit 2020“. Die fünftgrößte deutsche Betriebskrankenkasse, die Pronova BKK mit Verwaltungssitz in Leverkusen, hatte dafür in den Monaten Juni und Juli bundesweit 150 niedergelassene Pädiater und Pädiaterinnen befragen lassen. Die Ergebnisse erschrecken: 89 Prozent der befragten Ärzte hatten bei ihren Patienten vermehrt psychische Probleme diagnostiziert, 37 Prozent eine Zunahme körperlicher Beschwerden. Besonders betroffen seien Kinder und Jugendliche ab sechs Jahren, stellten die Mediziner in ihren Sprechstunden fest.

Schul- und Kitaschließungen sowie Kontaktbeschränkungen belasteten die Psyche enorm, heißt es in der Studie. „Kinder gehören zu den Verlierern der Pandemie“, sagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. In seiner Praxis in Solingen habe sich in den letzten Monaten bestätigt, was er er schon im Frühjahr fürchtete und was die Pronova-Studie nun belege. Er zeigte sich von der Ergebnissen der Studie „überhaupt nicht überrascht“.

Er hatte sie bereits im Mai vorhergesehen, schon damals vor den „Kollateralschäden des Lockdowns“ und „psychosozialen Schäden durch Kontaktverbot und Eingesperrtsein“ gewarnt. Beeindruckt war Fischbach lediglich vom Ausmaß des Schadens: Dass mit knapp 50 Prozent die Hälfte aller befragten Kinderärzte über zunehmende Aggressivität ihrer Patienten klagten: „Das ist schon eine ganze Menge!“, findet er.

Im Ruhrgebiet sind die Probleme noch größer

Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes Kinder- und Jugendärzte, nennt Kinder „Verlierer der Pandemie“.
Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes Kinder- und Jugendärzte, nennt Kinder „Verlierer der Pandemie“. © dpa | Karsten Lindemann

Kinder erlebten die Ausnahmesituation, die fehlende Alltagsstruktur als „verstörend“ oder gar „bedrohlich“, litten zudem unter den Ängsten der Eltern, berichteten die befragten Kinderärzte. Besonders folgenschwer aus Sicht der Mediziner: mangelnde Freizeitmöglichkeiten wie Sport im Verein (70 Prozent) sowie (daraus folgend?) zu viel Zeit an Handy oder Computer (69 Prozent).

Jeder zweite Pädiater beobachtete in seiner Sprechstunde Verhaltensveränderungen, Antriebslosigkeit, Reizbarkeit oder Angststörungen etwa; fast jeder zweite berichtete auch von Schlafstörungen. Vier von zehn Ärzten beklagten sogar Corona-bedingte Entwicklungsverzögerungen bei ihren jungen Patienten. Motorisch betraf das vor allem die Sechs- bis Neunjährigen; kognitiv die Drei- bis 13-Jährigen.

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Ein halbes Jahr ohne gewohnten Alltag, ohne geregelte Tagesstruktur sei für die kindliche Entwicklung eine lange Zeit, erklärt Fischbach. Natürlich gebe es resiliente Kinder, Kinder aus gut situierten Elternhäusern, deren Väter und Mütter sich kümmern könnten. Aber eben auch „besonders vulnerable Gruppen“, Kinder, die vielleicht schon vor Corona Probleme hatten, sich zu konzentrieren, bei denen zuhause es zwar eine Spielekonsole aber kein Tablet gebe. In Gegenden wie dem Ruhrgebiet etwa, kann er sich vorstellen, seien die Probleme größer als anderswo – weil es hier „schon früher höheren Unterstützungsbedarf gab“.

Das wahre Ausmaß ist noch gar nicht absehbar

Erst in den kommenden Monaten werde sich das gesamte Ausmaß der Corona-Folgen für die Kindergesundheit abschätzen lassen, betont Dr. Gerd Herold, Beratungsarzt bei der Pronova BKK. Denn in den vergangenen Monaten seien wegen des Virus viele Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen verschoben wurden. „Erst die Wiederaufnahme der Routinetermine, aber auch die Rückkehr in Schulen und Kitas dürfte entstandene Probleme bei Kindern und Jugendlichen ans Licht bringen.“ „Das ist sicher so“, bestätigt Fischbach. Erst langsam fänden sich die Patienten wieder ein.

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Seine größte Sorge allerdings ist die, wie es nun weitergeht. „Wenn die Schulen erneut komplett geschlossen werden, wird alles noch viel schlimmer werden“, fürchtet er. „Und das können wir uns nicht leisten. Kinder haben doch ein Recht auf Bildung!“ „Risiko-Adjustierung“ hält er für sinnvoller als Schließungen; vor Ort genau hinzugucken, was passiert; zwischen dem Hotspot in der Großstadt und dem Dorf mit keinem Dutzend Infizierter zu unterscheiden, „neu denken“. 900 Kinder hat Fischbach in seiner Solinger Praxis inzwischen nach den Vorgaben des RKI abgestrichen. „Zwei waren positiv, von ihren Eltern infiziert worden“, erzählt er. Die Infektionen würden „ganz überwiegend vom Personal“ in Schulen oder Kitas getragen, da müsse man ansetzen.

Eltern sollten „zusehen, dass niemandem die Decke auf den Kopf fällt“

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Die täglichen „Wasserstandsmeldungen“ der Behörden nennt der Kinderarzt wenig hilfreich. Und Eltern bräuchten derzeit nichts mehr als eine Perspektive, „die Sicherheit, dass Schulen und Kitas nicht mehr geschlossen werden“. Am Badesee sehe er die Menschen in diesen Tagen doch auch dicht an dicht liegen. „Und die Schule machen sie gleich komplett dicht, wenn ein Lehrer infiziert ist? Das konsequente Tragen von Mund-Nasen-Schutz durch das Lehrpersonal im Unterricht würde erheblich zur Risikominimierung beitragen, eine konsequente Teststrategie hilfreich sein.

Was Eltern für Ihre Kinder tun können? Sich mit ihnen beschäftigen, spielen, rausgehen, Sport machen, meint Fischbach: „Zusehen, dass niemandem die Decke auf den Kopf fällt“.