Ruhrgebiet. Über 11.000 Covid-19-Neuinfektionen wurden am Donnerstag gemeldet. In wenigen Tagen werden das auch die Kliniken im Revier zu spüren bekommen.
11.287 Neuinfektionen binnen 24 Stunden meldete das RKI am Donnerstagmorgen: trauriger Rekord seit Beginn der Corona-Pandemie. Drei Ruhrgebietsstädte (Herne, Duisburg und Gelsenkirchen) hatten am Donnerstag mit ihren Inzidenzwerten die Marke von 100 geknackt, alle größeren Revierstädte liegen teils weit über der „Hotspot-Marke“ von 50. Mit der steigenden Zahl bestätigter Covid-19-Fälle wächst erneut die Sorge: Schaffen das die Kliniken?
Bundesweit liegen derzeit nach Angaben des RKI 943 Covid-Patienten auf Intensivstationen, 424 müssen beatmet werden. 93 Kliniken meldeten dem offiziellen „Intensivregister“: Wir sind komplett ausgelastet.
„Wir haben mehr Routine als im Frühjahr und medizinisch dazu gelernt“
Die Krankheit sei nach wie vor „eine sehr ernste, keine deren Gefährlichkeit geleugnet werde dürfe“, erklärte Prof. Thorsten Brenner, Chef der Intensivmedizin des Essener Uniklinikums. Doch die Lage sei aktuell „noch gut zu bewältigen“. „Wir haben viel mehr Routine als im Frühjahr, medizinisch dazugelernt und wir wissen inzwischen ziemlich genau, mit welchem Zeitverzug nach einem Anstieg der Infektionszahlen die Patienten bei uns auflaufen.“ Dabei behandelt nach Angaben eines Kliniksprechers derzeit nur die Berliner Charité mehr Corona-Patienten stationär als die Essener Universitätsmedizin: 73 sind es aktuell, 17 müssen auf einer Intensivstation versorgt werden. Vor drei Wochen waren es nur 20 insgesamt und keine vier auf der Intensivstation.
„Wir kriegen das hin, auch wenn die Zahlen wieder deutlich zunehmen“, betont auch Prof. Christoph Hanefeld, medizinischer Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum. Nur die Herausforderung sei „heute eine ganz andere als im Frühjahr.“ Die Anspannung von damals, nicht zu wissen, was passieren wird, sei der Sorge gewichen, wie die Krankenhäuser wirtschaftlich aus einer zweiten Welle kommen. Seit Oktober gibt es kein Geld mehr aus dem staatlichen „Rettungsschirm“, der Kliniken seit März Ausgleichszahlungen leistete für frei gehaltene Betten, zusätzliche geschaffene Intensivkapazitäten und ähnliches. „Wir sind finanziell gesund in die Krise gegangen, hatten gehofft, mit einem blauen Auge rauszukommen und hätten das auch geschafft“, erklärt Hanefeld. „Wenn es nun noch einmal so kommt, dass wir Operationen absagen müssen, den Normalbetrieb nicht aufrecht erhalten können – dann wird es sehr schwierig für uns, für viele Kliniken.“ Er fordert eine erneute „wirtschaftliche Abfederung“ von Krankenhäusern.
Intensivmediziner freut sich über „eine gewisse Normalität“
Die „Corona-Schleuse“ auf der Intensivstation im Erdgeschoss des Bochumer St.-Josef-Hospitals, die Wand die den Covid-19-Bereich vom normalen trennt: Sie steht ganz weit hinten. Nur zwei Covid-19-Patienten wurden gestern in den beiden Zimmern dahinter behandelt, beide auch beatmet, einer hängt sogar an der ECMO, einer Art künstlicher Lunge für Schwerstbetroffene. Im Frühjahr war die Schleuse: der Eingang zur Intensivstation. Andere als Corona-Patienten (bis zu 20 Infizierte gleichzeitig) waren damals hier nicht zu finden.
„Wir merken den neuen Anstieg der Fallzahlen deutlich“, sagt Dr. Thomas Breuer, ärztlicher Leiter der Intensivstation der Bochumer Uniklinik. „Aber Sie finden die Patienten jetzt vor allem auf der normalen Infektionsstation, nicht bei uns. Unsere Zahlen sind noch relativ konstant.“ Der Intensivmediziner ist froh darüber, froh über „eine gewisse Normalität“, die nach den anstrengenden Monaten im Frühjahr eingekehrt sei. 17 Covid-Patienten, darunter ein kleines Kind, würden im Haus derzeit insgesamt stationär versorgt, bestätigt Prof. Christoph Hanefeld, der medizinische Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum (KKB).
Landesweit 265 Covid-Patienten auf Intensivstationen
Landesweit lagen gestern laut Klinik-Monitor der Funkemedien-Gruppe 265 Covid-Patienten auf Intensivstationen. Bundesweit waren es den aktuellen Zahlen des RKI zufolge schon 943 (davon 424 beatmet), doppelt so viele wie vor zwei Wochen. In zwei weiteren Wochen errechnete das „Science Media Center“ könnte die Zahl 2000 erreicht sein, am 9. November der Höchststand von April. Manchen Menschen macht das Angst. Doch die Kapazitäten sind längst nicht ausgeschöpft. 728 deutsche Kliniken meldeten freie Betten, nur 93 sind „komplett ausgelastet“; selbst in Städten wie Herne (Inzidenzwert: 152,8), Gelsenkirchen (123,6) oder Duisburg (105,7) wird kein Kranker unversorgt bleiben.
Wobei die „Bettenpolitik“ der Kliniken heute eine andere ist als zu Beginn der Pandemie. Im Essener Uniklinikum etwa werden derzeit überhaupt keine Kapazitäten eigens für Corona-Fälle frei gehalten. Im Frühjahr seien „Betten aggressiv freigeräumt, Operationen dafür verschoben“ worden, berichtet Prof. Thorsten Brenner, Chef der dortigen Intensivmedizin. Jetzt laufe der Normalbetrieb parallel weiter. „Physisch frei“ sei deshalb so gut wie keines seiner 190 Intensivbetten („das können wir uns gar nicht leisten“) – abgewiesen werde müsse aber kein einziger Patient. „Wir steuern dynamisch nach, räumen Betten frei, wenn und wo das nötig ist. Da gibt es keine Probleme.“ Ad hoc, innerhalb von 24 Stunden, stünden zudem 40 „Reserveintensivbetten“ zur Verfügung.
Hydroxychloroquin? Hat sich nicht bewährt
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In Bochum sieht es ähnlich aus. Binnen einer Nacht ließe sich die Bettenzahl von derzeit vier auf zehn aufstocken, erklärt Breuer. Auch KKB-Geschäftsführer Hanefeld betont, wie wichtig es sei, nicht erneut ganze Stationen schließen, OPs verschieben, Patienten absagen zu müssen. Doch endlich wieder mehr „normale“ Patienten heißt nicht: weniger Sorgen. Im Gegenteil. „Die Zahl der Patienten, die wegen anderen Sachen als Corona zu uns kommen, stationär aufgenommen und abgestrichen werden, nimmt deutlich zu“, erläutert Hanefeld. Zehn bis 15 Personen seien es täglich, sie setzten das Haus schnell „schachmatt“, denn: „Bis da Ergebnis da ist, müssen wir die als Corona-Verdachtsfälle behandeln, so als ob sie krank wären.“
Medizinisch immerhin hat man viel gelernt in den vergangenen Monaten: „Wir behandeln gezielter, oft auch früher“, sagt Thorsten Brenner. Im April und März hätte es kaum Studien gegeben, habe man nur „nach bestem Wissen“ versuchen können, den Betroffenen zu helfen. Einige der „experimentellen“ Therapien hätten sich bewährt, andere nicht. Das Malaria-Mittel Hydroxychloroquin etwa, auf das Donald Trump zur Prophylaxe setzte, wird in Essen und in Bochum nicht mehr verabreicht. „Zu starke Nebenwirkungen, kein therapeutischer Benefit“. Gut etabliert habe sich dagegen das Cortison-Präparat Dexamethason.
Auch im KKB gehört es - neben Blutverdünnern – inzwischen zur Routinemedikation für Covid-Patienten. „Und wir wissen auch, dass wir die invasive Beatmung hinaus zögern sollten“, ergänzt Thomas Breuer. Bis vor zwei Wochen hätte er auch Remdesivir für ein gutes Medikament gehalten. Eine neue Studie der WHO zeigte jetzt jedoch: keine signifikante Wirkung. „Wir haben schon viel gelernt, aber wir lernen noch immer dazu.“
„Wir müssen vorsichtig bleiben, das ist kein leichter Schnupfen“
„Wir müssen vorsichtig und vigilant bleiben“, sagt Brenner. „Das Schöne“ sei, dass man jetzt wisse, was da auf die Kliniken zurolle – und passgenau reagieren könne. Denn auf der Intensivstation landen die Patienten erst sieben bis 14 Tagen, nachdem ihre Infektion beim RKI gemeldet wurde. Sorgen bereite ihm, dass die schwer kranken Patienten zunehmend jünger würden. „Die Alten sind vorsichtiger geworden“, glaubt er, „und die Jungen leichtsinniger“. Doch jeder Kliniker wüsste, das Virus sei lebensgefährlich. Die jüngste Patientin, die ihm starb, war 22. „Das ist kein leichter Schnupfen, das ist was, was man ernst nehmen muss“, warnt der Essener Arzt.