Ruhrgebiet. Wenn am Montag die Herbstferien enden, beginnt das Lüften: Wie Schulen den Unterricht angesichts eskalierender Covid-19-Zahlen meistern wollen.

In Thermounterwäsche wird die ein oder andere Lehrerin am Montag wohl zum Unterricht erscheinen. Denn in Klassenräumen muss angesichts der steigenden Covid-19-Zahlen künftig regelmäßig gelüftet werden: alle 20 Minuten und in jeder Pause. Es trage „zur maßgeblichen Reduzierung des indirekten Infektionsrisikos“ bei, heißt es in einer Mail des Schulministeriums „Zum Schulbetrieb in Corona-Zeiten nach den Herbstferien“. Doch frieren zu müssen, ist nicht das einzige Thema, das Lehrer in diesen Tagen umtreibt.

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Nein, sagt Dr. Paul Reiter, er fürchte sich nicht vor dem Schulstart. Auf 32 Jahre als Lehrer blickt der 60-Jährige zurück, er unterrichtet Englisch und Französisch am Neuen Gymnasium Bochum – mit Maske („geht klar, selbst bei Sprachunterricht!“). Die Lage sei „schwierig“, aber seine Schule (1400 Schüler, 110 Lehrer und Referendare) sei bislang „ganz gut durch die Pandemie gekommen“. Was er fürchtet, was er vor allem den Schülern nicht erneut zumuten möchte, ist ein erneuter Lockdown. Dass schwangere Kolleginnen und Lehrer mit Asthma oder Herzproblemen das womöglich anders sehen, weiß er. „Die haben Sorge sich anzustecken“.

„Landesregierung hat zur allgemeinen Verunsicherung beigetragen“

Die allgemeine Verunsicherung ist gewaltig. Dass die Landesregierung versuche „es allen recht zu machen“ habe sehr dazu beigetragen, sagt die Vorsitzende des Philologen-Verbands NRW, Sabine Mistler. Sie fordert „endlich eine klare Linie“, das Land habe doch eine „Fürsorgepflicht gegenüber den Lehrkräften“. Und die seien bereits enorm belastet, hätten „umgesetzt, was es umzusetzen gab“.

Viele Kollegen, weiß Mistler, die selbst„leidenschaftliche Lehrerin“ (Englisch/Sport) ist, kehrten angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens am Montag nur voller Angst zurück an ihren Arbeitsplatz. Wenn weiter parallel Präsenz- und Distanzunterricht stattfinde, wenn im Herbst und Winter die Erkältungen zunähmen und man weiter Tage auf das Testergebnis eines Schülers warten müsse, „dann ist das nicht mehr zu stemmen“.

Stundenpläne entzerrt, Differenzierung ausgesetzt, Pausen verschoben

Zumal die Gesundheitsämter vor Ort ganz unterschiedlich entschieden: „Mal wird bei einem positiven Test der ganze Jahrgang in Quarantäne geschickt, mal sind es bloß die direkten Sitznachbarn...“., sagt Mistler. „Jede Stadt handhabt das anders“, bestätigt Achim Elvert, Leiter der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen. Seine Lehrer kämen aus zig verschiedenen Städten. „Und zuständig ist das Gesundheitsamt des jeweiligen Wohnorts...“, stöhnt er.

An der Gelsenkirchener Schule wurde der „Stundenplan entzerrt“, die Differenzierung in der Mittelstufe weitgehend ausgesetzt; unterrichtet wird möglichst im Klassenverband, aber so, dass benachbarte Jahrgänge nicht mehr aufeinander treffen. Der Unterricht für die Klassen 5 und 6 etwa findet versetzt statt – genau wie die Pausen. Was auch bedeutet: Es sind doppelt so viele Pausenaufsichten nötig wie früher. Doch da habe er Glück, sagt Elvert. Nur vier seiner gut 100 Lehrer stünden für den Präsenzunterricht nicht zur Verfügung, erst einer wurde – noch vor den Sommerferien – positiv getestet. „Da sind andere Schulen gebeutelter“, findet er.

Forderung: Landesweite Maskenpflicht, angepasst ans regionale Infektionsgeschehen

Achim Elvert, Leiter der Gesamtschule Ückendorf: „Regelbetrieb gibt es derzeit an keiner Schule.“
Achim Elvert, Leiter der Gesamtschule Ückendorf: „Regelbetrieb gibt es derzeit an keiner Schule.“ © Lars Heidrich

Was Elvert freut: Dass Schulministerin Gebauer am Mittwoch wieder die allgemeine Maskenpflicht für alle Schüler (ab Klasse 5) verkündete – auch, wenn er davon aus den Medien erfuhr. Für seine 1061 Schüler konnte er das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes bisher nicht einfordern, sondern nur empfehlen. „Und nicht alle Schüler“, sagt der Schulleiter, „folgten dieser Empfehlung“. Doch er müsse 30 Schüler samt Lehrer in einen 60-Quadratemeter-Raum packen, in dem auch Möbel und eine Tafel stehen, sagt Elvert. „Wäre für uns die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik zuständig, dürften es höchstens sechs sein...“

Auch Sabine Mistler begrüßte die Neuauflage des Maskengebots als „notwendiges Übel“. Er mag nicht mehr hören, ergänzt Paul Reiter, wenn Schüler oder Lehrer in Fernsehberichten übers Maskentragen klagten. „Ich denke, es gibt schlimmere Schicksale“, sagt der Bochumer Lehrer.

70 Prozent der Lehrer finden Infektionsschutz mangelhaft oder ungenügend

Schon im September verteilten die Lehrer bei einer Umfrage ihrer Gewerkschaft GEW miserable Noten für den Infektionsschutz an ihren Schulen. Fast 70 Prozent fühlten sich durch die Maßnahmen der Landesregierung nur mangelhaft oder gar ungenügend geschützt. Und seither ist das Infektionsgeschehen eskaliert, alle größeren Revierstädte etwa sind inzwischen Risikogebiet.

Lüften, glaubt Sabine Mistler könne darum nicht die Lösung sein. „Nicht umsetzbar“, sagt die Vorsitzende des NRW-Philologen-Verbandes, „nicht bei Wind und Wetter, Regen, Schnee und Hagel“. Der Unterricht muss dafür unterbrochen werden, der Geräuschpegel steigt, es wird kalt. Außerdem sind nach wie vor längst nicht alle Klassen mit Fenstern ausgestattet, die sich komplett öffnen lassen.“ „Unzumutbar“ für Lehrer und Schüler, findet sie.

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Achim Elvert hat Fenster, die sich öffnen lassen. Leider: seien die meisten an der West- und Südseite des Schulgebäudes zu finden, der Wetterseite. „Wenn ich bei Regen lüfte, haben sieben Schüler keinen Arbeitsplatz mehr.“ Bundeselternrat, GEW, VBE und andere Teilnehmers eines „Fachgesprächs zum Lüften“ der Kultusministerkonferenz (KMK) baten-- danach offenbar noch immer ratlos – KMK-Präsidentin Stefanie Hubig inzwischen schriftlich um „Hinweise dazu, wie ein geordneter Unterricht in Sequenzen von jeweils 20 Minuten möglich ist“.

CO2-Ampeln oder Luftfilter

Auch von CO2-Ampeln, die sie etwa Duisburg seinen Schulen „spendieren“ will, hält Mistler nichts. Das RKI hatte sie empfohlen, die Ampeln warnen vor einer zu hohen Aerosoldichte und damit womöglich einer zu hohen Viruslast in der Raumluft. „Aber die führen ja auch wieder nur zum Lüften“, erklärt Sabine Mistler. Luftfilteranlagen seien die möglicherweise bessere Variante, glaubt sie.

Schulleiterin Julia Gajewski vor der Gesamtschule Bockmühle: Sie hätte gerne Luftfilter für die Klassenräume, dass sie dem Land zu teuer sind, findet sie „sehr schräg“.
Schulleiterin Julia Gajewski vor der Gesamtschule Bockmühle: Sie hätte gerne Luftfilter für die Klassenräume, dass sie dem Land zu teuer sind, findet sie „sehr schräg“. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Bayern (1,65 Millionen Schüler) hat daran wohl längst keinen Zweifel mehr: 37 Millionen Euro stellt der Freistaat seinen Schulen für die Anschaffung von Luftfiltern zur Verfügung. Julia Gajewski, Schulleiterin der Gesamtschule Bockmühle in Essen hätte auch gern welche. Doch das Land NRW (2,5 Millionen Schüler) kündigte erst am Mittwoch finanzielle Hilfe beim Kauf solcher Geräte an -- „für nicht belüftbare Räume“. In der kommenden Woche will das Kabinett ein 50-Millionen-Euro-Sonderprogramm beschließen, danach können Anträge gestellt werden. Dass die Ministerin bis jetzt die Kosten (geschätzte 100 Euro pro Schüler) gescheut hatte, nennt Gajewski am Tag zuvor „sehr schräg“. Es zeigt, wie wenig groß die Wertschätzung für Schüler ist.“ Zumal für die Anschaffung solcher Geräte für Einzelhandel und Gastronomie ja Fördermittel längst vorhanden seien, wie Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart jüngst versprach.

Die Bockmühle mit ihren über 1400 Schülern setzt schon seit den Sommerferien auf mehr Lehrer in der Oberstufe, kleinere Kurse, versetzte Pausen und Unterrichtsbeginn – „um möglichst wenig Vermischung zu haben“. Es gab „diverse“ Corona-Fälle bei den Schülern, Lehrer blieben bislang vom Virus verschont. Derzeit optimiere man Stundenplan und Pausenregelung, merze kleine „Macken“ der Strategie aus, sagt Schulleiterin Gajewski. Und im maroden Schulgebäude gebe es in jedem Klassenraum mindestens ein Fenster, das sich öffnen ließe.

„Ungleiche Schulbiografien werden sich nicht vermeiden lassen“

„Sehr gründlich“, erzählt die Schulleiterin, „kontrollieren wir die Schüler auf Krankheitssymptome, vor allem die, die kurz vor dem Abi stehen.“ Denn die kämen auch mit Symptomen, „egal wie krank sie sind“ – weil sie nicht noch mehr Unterricht verpassen wollen. „Ungleiche Schulbiografien“ würden sich in diesem Jahr dennoch nicht vermeiden lassen: dass am Ende ein Schüler länger als ein anderer unterrichtet worden sei, empfindet sie als „sehr ungerecht“.

Auch Achim Elvert ist schlecht zu sprechen auf das, was er „Fetisch des Regelbetriebs“ nennt. „Ich kenne keine Schule, die derzeit im Regelbetrieb ist“, betont der Leiter der Gesamtschule Ückendorf. Die Politik sollte endlich den Mut haben, einzugestehen, dass dieses Jahr anders ist – und das es deswegen auch andere Regeln brauche. „Wir sollten endlich nicht mehr Schule machen, wie sie uns gefällt. Sondern eine, die an Corona angepasst ist. Etwa auf kleinere Lerngruppen und reduzierten Unterricht setzen, vielleicht auf zentrale Prüfungen verzichten.“

>>>> INFO: Unterricht via Bildschirm

Digitales Lernen funktioniere, sagt der Gelsenkirchener Gesamtschulleiter Achim Elvert,. Aber: „der Lernfortschritt“ sei mit dem im Präsenzunterricht nicht zu vergleichen.

Manche seiner Schüler verfügten eben nicht über ein Laptop, und auf die vom Land versprochenen warte er noch. „Die lesen deshalb komplizierteste Texte auf dem Handy, schreiben Hausaufgaben auf Papier und schicken ihrem Lehrer dann ein Foto davon.“