Bochum. Marvin (16) muss dem Mann, der ihn 475-mal missbraucht haben soll, (noch) nicht gegenüber treten. Seine Aussage vor Gericht wurde verschoben.

Marvin, sagt seine Anwältin Marie Lingnau, habe sich gefürchtet vor diesem Tag. Das ganze Wochenende lang habe den 16-Jährigen seine für diesen Montag geplante Aussage vor Gericht „umgetrieben“, vor allem die Angst, dort wieder auf Lars H. (45) zu treffen. Den Mann, der ihn laut Anklage an die 500-mal sexuell missbraucht haben soll. Drei Jahre lang, jeden zweiten Tag. Bis eine Polizistin den Jungen im Dezember vergangenen Jahres bei einer Hausdurchsuchung in der Recklinghäuser Wohnung des jetzt Angeklagten zufällig entdeckte – in einem Schrank.

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Lange wird an diesem Morgen, dem 9. Verhandlungstag im Prozess gegen Lars H., vor der Großen Strafkammer des Bochumer Landgerichts diskutiert, wann und unter welchen Umständen der Junge als Zeuge zu hören ist. Der Angeklagte, in verblichener Jeans und blauem, kurzärmeligem Shirt, aber anders als an den ersten Prozesstagen ohne Mund-Nasenschutz erschienen, macht sich derweil Notizen, schüttelt hin und wieder verständnislos den Kopf.

„Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein waren lange genug Teil seines Lebens“

Lingnau, die Marvins Mutter als Nebenklägerin vertritt, fürchtet eine „nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls“, sollte Marvin, der noch auf seine Trauma-Therapie wartet, in Anwesenheit von Lars H. aussagen müssen. Auch könne er in dessen Gegenwart womöglich „nicht wahrheitsgemäß“ widergeben, was ihm widerfahren ist. „Er verdrängt noch.“ Erst die Distanz zu seinem Peiniger habe es ihm überhaupt ermöglicht, seine allererste, entlastende Aussage später zu revidieren, Lars H. doch zu belasten. Fast drei Jahre lebte das Kind bei dem Angeklagten, fast drei Jahre war es vermisst worden. 2017 war der damals 13-Jährige aus einer Duisburger Wohngruppe zu Lars H. geflüchtet, den er in einer WhatsApp-Gruppe kennen gelernt hatte.

Lingnaus früheren Antrag auf Ausschluss des Angeklagten für die Dauer der Zeugenaussage oder ersatzweise eine audiovisuell übertragene Vernehmung des Jungen in einem Nebenraum hatte die Kammer unter Vorsitz von Richter Stefan Culemann zuvor abgelehnt. Über Lingnaus Beschwerde gegen diese Entscheidung beim Oberlandesgericht ist noch nicht entschieden. „Im Gegensatz zu Ihnen“, sagt die Anwältin in Richtung der Verteidiger, „kenne ich den Jungen. Ich weiß, was ihm zuzumuten ist und was nicht. Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein waren lange genug Teil seines Leben. Wir dürfen ihn dem nicht wieder aussetzen.“

„Wenn er heute nicht vernommen wird, macht er sich weiter verrückt“

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Markus Kluck, einer der drei Pflichtverteidiger des Angeklagten, entgegnet, dass kein ärztliches Attest die „Vermutung“ der Nebenklage belege, dass dem 16-Jährigen die Aussage vor Gericht, ein erneutes Treffen mit Lars H. ernsthaft schade. Eine „Traumatisierung“ sei wenig wahrscheinlich. Entscheidender sei Marvins „Aussage-Glaubwürdigkeit“, der habe ja „in der Vergangenheit unterschiedliche Angaben zu wesentlichen Anklagepunkten gemacht.“ Die Verteidigung fordert darum, einen Sachverständigen mit einem aussagepsychologischen Gutachten zu beauftragen – und dafür die gesamte Aussage des Jungen im Wortlaut zu protokollieren oder wenigstens auf Tonträger aufzunehmen. „Zur Güte“ schlägt Kluck schließlich aber doch vor, die Vernehmung des Jungen zu verschieben, bis das OLG entschieden haben. „Dann sind wir auf der sicheren Seite“, sagt er. Sollte das OLG nämlich dem Antrag der Nebenklage folgen, wäre eine zuvor erfolgte Aussage des Jungen in Anwesenheit von Lars H. womöglich auch ein Revisionsgrund.

Staatsanwältin Nicole Abts möchte nicht vertagen. Sie gibt zu bedenken, dass eine erneute Verschiebung der eigentlich bereits für den dritten Verhandlungstag angesetzten Vernehmung, Marvin doch auch belasten würde. „Wenn er heute nicht vernommen wird, macht er sich weitere ein, zwei Monate damit verrückt.“

„Freibeweis“ statt sofortiger Aussage: Zitternd, hungrig und voller Angst

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Richter Culemann ordnet schließlich eine „freibeweisliche Vernehmung“ Marvins in einer Verhandlungspause an, für die der Angeklagte und die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. So könne sich die Kammer selbst ein Bild machen, inwieweit eine Aussage Marvin belaste. Keine halbe Stunde dauert diese, drei Stunden hat das Kind darauf warten müssen. „Alle“, sagt Anwältin Lingnau kurz danach, „konnten erkennen, wie schwer ihm das gefallen ist.“ Im Protokoll des Freibeweises, das Richter Culemann anschließend verliest, ist von einem jungen Zeugen die Rede, der sich „unwohl, aufgeregt und nervös“ fühlt, zittert, der um fünf Uhr an diesem Morgen aufgewacht sei, nicht habe frühstücken können. Der erklärte, wenn der Angeklagte bei seiner Aussage dabei sein werde, werde ihm das Reden noch schwerer falle, der Angst vor Lars H. habe. Auch ein Sichtschutz, der ihn vor den Blicken von Lars H. bewahre „bringe nichts“. Am Ende des Tages erklärt Richter Culemann: „Der Nebenkläger wird vorerst nicht vernommen.“

Als allerletztes nimmt der Gericht dann noch eine Videosequenz „in Augenschein“, die auf einer der sichergestellten Festplatten gefunden wurde. Lars H. blickt kaum hin, wirkt uninteressiert, schüttelt nur erneut den Kopf. Kurz bevor das Video endet, ist eine junge, flehende Stimme zu hören: „Lass mich, lass mich!“