Duisburg. Als Pflegevater war er ihre wichtigste Bezugsperson. Er hat mich missbraucht, sagt seine Pflegetochter und erzählt von ihrem langen Kampf.

Sie wurde als Kind über Jahre von ihrem Pflegevater missbraucht, ebenso ihre Cousine. Fast 20 Jahre später zeigte diese den Mann an – vergebens. „In Deutschland besteht ein Täterschutz“, bilanziert Cordula B. nach dem Prozess: „Den Opfern wird es zu schwer gemacht“.

Ihr Pflegevater wurde nicht verurteilt, obwohl das Gericht in der Urteilsbegründung keine Zweifel an den Taten hegte. Allerdings gelten sie juristisch als verjährt, was sie seelisch für Cordula B. und ihre Cousine nie sein werden.

Der Pflegevater „hat mir auch Gutes getan“

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Mit drei Jahren kam Cordula B. aus dem Heim in die Familie, der Pflegevater kümmerte sich um das Kind. „Er hat mir auch Gutes getan“, sagt die heute 37-Jährige. Und liefert damit gleich die Begründung, warum sie so lange brauchte, um sich von dem Mann zu lösen, der eben auch schlecht zu ihr war. Es dauerte, die Taten überhaupt als unangemessen, übergriffig sehen zu können.

Was sie erlebte in der Kindheit, das hatte sie lange verdrängt, weggeschlossen im Innersten. Erst die Beziehung zu einem Polizisten, der hartnäckig nachfragte, warum sie in manchen Dingen anders sei – empfindsamer, panisch gar – holte den Missbrauch wieder ans Tageslicht. Sie machte eine Therapie.

Ähnlich erging es ihrer Cousine, die 2017 schließlich die Kraft fand, den Mann anzuzeigen. Cordula B. wurde Nebenklägerin. Die erste Begegnung mit dem einst so vertrauten Mann fand nach vielen Jahren im Gerichtssaal statt, da war er schon ein alter Mann, die Hände im Schoß, das Haupt gebeugt, schildert die Duisburgerin. Da stand sie allerdings allein vor Gericht, denn das Verfahren der Cousine wurde wegen Verjährung der Taten bereits im Ermittlungsverfahren eingestellt.

Besondere Nähe zwischen Pflegevater und Kind

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Zwei Glaubwürdigkeitsgutachten musste sie über sich ergehen lassen, drei Befragungen, schließlich den Prozess, immer wieder wurde ihre Geschichte, wurde sie aufgewühlt. Am Ende wurde ihren Aussagen immerhin Glaubhaftigkeit attestiert.

„Ich sah mich auf 35 Seiten mit Unwahrheiten und verdrehten Tatsachen konfrontiert“, beschreibt sie die Stellungnahme des gegnerischen Strafverteidigers, denn der Pflegevater leugnete die Übergriffe bis zuletzt. Um sein gutes Verhältnis zur Pflegetochter zu dokumentieren, wurden persönliche Fotos und Chatverläufe eingebracht. Noch 2014 hatte sie sich von dem Ehepaar adoptieren lassen. Der Pflegevater legte das als besondere Nähe aus. Dem widerspricht B. gar nicht, er war schließlich über Jahrzehnte ihre wichtigste Bezugsperson.

Hätte sie gewusst, wie lang und beschwerlich der Rechtsweg sein würde, hätte sie sich den Gang vor Gericht womöglich noch mal überlegt. Die Gutachten haben sie nachhaltig retraumatisiert. „Die Grundhypothese ist, dass die Aussagen des Opfers unwahr sind“, erläutert sie. Dies sei neben der Tatsache, dass im Zweifel für den Angeklagten entschieden werde, eine weitere Form des Täterschutzes. „Ich wurde 23 Jahre nach den Taten nach Details wie der Eindringtiefe gefragt“, erzählt sie erschüttert.

Warum der Prozess ohne Urteil ausging

Bis Ende der 90er-Jahre galt erzwungener Oralverkehr sowie Penetration mit den Fingern nicht als Vergewaltigung, da letztere über erzwungenen Beischlaf definiert wurde. Entsprechend war die Strafandrohung geringer, waren Verjährungsfristen kürzer. Erst eine Gesetzesänderung im Juli 1997 stellte den erzwungenen oralen oder analen Verkehr der Vergewaltigung gleich, die Mindeststrafe ist seither eine Freiheitsstrafe, aber auch hier gelten Verjährungsfristen. Die Staatsanwaltschaft hat die Beweisführung mit viel Mühe verfolgt. Hätten Zweifel an den Vorwürfen bestanden, wäre der Aufwand wohl nicht betrieben worden.

Zweifel am Tathergang oder an der Glaubwürdigkeit des Opfers wurden nicht geäußert. Die Verurteilung scheiterte an der präzisen zeitlichen Terminierung des erfolgten schweren sexuellen Missbrauchs.

Da am Ende nicht zu hundert Prozent bewiesen war, dass der schwerste Missbrauch auch nach der Gesetzesänderung stattgefunden hat und somit auch juristisch als Vergewaltigung zu beurteilen gewesen wäre, galten die Taten als verjährt. Der Prozess wurde somit aufgrund formaljuristischer Verfahrenshindernisse eingestellt – im Zweifel für den Angeklagten.

Hilfe vom Weißen Ring und der Opferschutzbeauftragten

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Der Weiße Ring half B., zahlte die Erstberatung, vermittelte eine Opfer-Anwältin. Auch das Team der Opferschutzbeauftragten des Landes NRW engagierte sich vorbildlich, lobt sie. Man begleitete sie bei Gesprächen mit der Krankenkasse, welche trotz des aufwühlenden Prozesses erstmal keine weiteren Therapiestunden bewilligte. 40 Prozent Schwerbehinderung wurden ihr wegen der Posttraumatischen Belastungsstörung attestiert.

Um weiter Therapien machen zu können, kämpft sie jetzt für eine Opferrente. Deren Beantragung im Rahmen des Gesetzes zur Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (OEG) sei ein bürokratisches Monstrum, sagt Cordula B., ihre momentane Akte umfasse zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 1000 Seiten. „Die Bearbeitung dauert schon fast drei Jahre und die Entscheidung über die Bewilligung wird noch weitere Zeit in Anspruch nehmen.“

Beruflich schlägt sich die 37-Jährige wacker. Sie arbeitet als Finanzdienstleisterin für einen Großkonzern. Umso wichtiger sei es, dass es ihr seelisch gut geht, und dafür brauche sie langfristig professionelle Unterstützung. Aber allein der regelmäßige Schriftwechsel macht es ihr schwer, einen emotionalen Abschluss zu den Kindheitserlebnissen zu finden.

* Aus juristischen Gründen haben wir für die Duisburgerin ein Pseudonym gewählt.

>> SEXUELLER MISSBRAUCH: HILFEPORTAL UND FRAUENBERATUNGSSTELLE

Das Hilfeportal Sexueller Missbrauch der Bundesregierung beantwortet die wichtigsten Fragen und vermittelt Kontakte in der Nähe: www.hilfeportal-missbrauch.de

Die Frauenberatungsstelle Duisburg unterstützt Frauen in Krisen- und Problemsituationen: www.frauenberatungsstelle-duisburg.de