Köln/Bergisch Gladbach. Auch vor dem Internet haben sich Täter zum Missbrauch verabredet, sagt eine Expertin. Mit den eigenen Videos kann man sie nun öfter überführen.

Nein, Ursula Enders ist keineswegs überrascht von der Dimension des Missbrauchsnetzwerkes, das von Bergisch Gladbach aus aufgedeckt wurde. „Es hat diese Fälle schon immer in Deutschland gegeben, auch in dieser Dimension und Brutalität“, sagt die Geschäftsführerin von „Zartbitter“, der Informationsstelle gegen sexuellen Kindesmissbrauch in Köln. „Das Besondere ist nach Lügde und Münster, wo der Missbrauch zum Teil in einer bürgerlichen Kleingartenanlage stattfand, dass nun jedem klar wird: Das Thema kriecht in die Kinderzimmer der normalen Familien.“

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Tatsächlich sollen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder sexuelle Gewalt erlebt haben, erklärte Sabine Andresen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Weltgesundheitsorganisation gehe von einer Million betroffenen Mädchen und Jungen aus, so die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Jeder Lehrer und vermutlich auch die meisten Eltern, hätten wohl irgendwann einmal mit Kindern zu tun, die sexueller Gewalt ausgesetzt seien.

An der Dimension gebe es „keinen Zweifel“, stimmt Enders zu. Was neu ist: „Inzwischen gibt es in der Hälfte der Fälle Bildmaterial.“ Die Opfer werden gefilmt und fotografiert. „Dieses Bloßstellen bedeutet eine unendliche Handlung, denn die Bilder kann man nicht zurückholen.“ Enders hatte schon Fälle, „da hatte eine Frau noch zehn Jahre nach der Tat das Gefühl, auf der Straße erkannt zu werden.“

Opfer haben ein erhöhtes Risiko

Es kommt hinzu, dass Täter sich oft Kinder suchen, die bereits missbraucht wurden. „Viele Kinder können die Fälle nicht mehr klar auseinander halten, die Geschichten verwischen. Der Täter hat eine deutlich größere Chance, sich vor Gericht verteidigen zu können, weil dem Opfer der Nachweis der einzelnen Tat schwer fällt.“ Auch deswegen schieben sich Täter und Tätergruppen Kinder hin- und her, erklärt Enders. „Es hat nicht nur den Aspekt, mehr Opfer zu bekommen.“

Ursula Enders von „Zartbitter Köln e.V.“, einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen.
Ursula Enders von „Zartbitter Köln e.V.“, einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. © FUNKE Foto Services | Felix Heyder

Immerhin könne man nun anhand des Bildmaterials häufiger Straftaten beweisen. „Bis vor wenigen Jahren war es eine absolut sichere Angelegenheit, kleine Kinder zu missbrauchen.“ Gerichte gingen meist davon aus, dass sie als Zeugen nicht geeignet waren. „Wir sind sehr froh, wenn sich die Gesetzeslage ändert“, sagt Enders.

Zurzeit drohen für Besitz und Weitergabe von Kinderpornografie drei Monate bis fünf Jahre Haft, bei gewerbs- oder bandenmäßigem Vorgehen verdoppelt sich dieser Strafrahmen. Vor allem Unionspolitiker hatten gefordert, schon den Besitz als Verbrechen einzustufen, was eine Mindeststrafe von einem Jahr zur Folge hätte. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will dies nun umsetzen.

In Chats zum Missbrauch gedrängt

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Und welche Rolle spielt das Internet? Im Fall Bergisch Gladbach sollen Zögernde in Chats zum Missbrauch gedrängt worden sein, erklärte NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) am Montag. Tipps machten die Runde, welche Beruhigungsmittel man den Kindern geben solle.

„Die Quantität hat sich sicher erhöht“, sagt Enders. „Die Dynamik von Tätergruppen gab es aber schon vor 30 Jahren: Täter haben sich per Fotos die Kinder empfohlen und ausgesucht, die sie dann in Asien missbrauchten. Auch in kirchlichen Bezügen“ hätten sich Täternetzwerke gebildet. Es sei auch vor dem Internet nicht schwer gewesen, Gleichgesinnte zu finden, sagt Enders. „Man musste sich nur an die Theke stellen und extrem sexistische Sprüche ablassen. Der eine Zuhörer mag sich abwenden, aber wenn einer mitlacht, erzählt man die Zote weiter. Täter testen die Widerstandskraft ihrer Umwelt.“

Als Zartbitter in der siebten Klasse einer Kölner Schule Nachforschungen anstellte, fand das Team sieben Fälle von sexuellem Missbrauch. Der Hausmeister und der Zivi tauschten Kinderpornos. Mehrere Lehrer „hatten die x-te sexuell Beziehung zu Oberstufenschülerinnen“. Darum ist der vielleicht wichtigste Grundsatz des Hilfsvereins, auf das Umfeld zu schauen: „Ein Täter kommt niemals allein.“

„Als wenn man eine Schachtel Zigaretten geklaut hätte“

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„Es kam wiederholt vor, dass Arbeitskollegen Bilder auf dem PC gefunden, aber es nicht zur Anzeige gebracht haben. Es wird gehandhabt, als wenn man eine Schachtel Zigaretten geklaut hätte. Oft machen auch Mütter den Fehler, ihren Partner anzusprechen. Der löscht dann die Bilder und sie glaubt, es wäre vorbei ... Es wird nicht realisiert, dass hinter jedem Bild ein missbrauchtes Kind steht.“

Auch Jugendamtsmitarbeiter, Erzieher, Lehrer, Ärzte und Polizisten seien keineswegs gut vorbereitet, glaubt Enders. „In all diesen Studienrichtungen gibt es keine Verpflichtung, ein Seminar zum Kinderschutz zu belegen. Wir brauchen Schulungen, wie man Missbrauch erkennt und Kinder ansprechen kann. Wir brauchen mehr niedrigschwellige Beratungsangebote. Denn direkt zur Polizei oder zum Jugendamt zu gehen, ist für viele keine geeignete Empfehlung. Und für die Opfer brauchen wir mehr traumatherapeutische Angebote.“