Viersen. Der Tod eines Kita-Kindes in Viersen wirft systemische Fragen auf: Sind Kitas zu lax bei Übergriffen von Erzieherinnen, weil Fachkräfte fehlen?

Fast hätten sich das Opfer und die mutmaßliche Täterin verpasst. Als die kleine Greta nach drei Wochen Corona-Pause erstmals wieder ihre Kita in Viersen besuchte – als einziges Kind in ihrer Notgruppe – stand für ihre Erzieherin bereits der Abschied bevor. Die 25-Jährige hatte eine knappe Woche zuvor gekündigt, der verhängnisvolle 21. April sollte ihr vorletzter Arbeitstag sein. Rund zwei Wochen später, am 4. Mai starb Greta, einen Tag nach ihrem dritten Geburtstag.

Die tödlichen Verletzungen, die ihr die Luft abgeschnürt hatten, soll ihr die Erzieherin mit Absicht zugefügt haben, glauben die Ermittler. Nur fünf Monate hatte sie in der städtischen Kita gearbeitet, sie soll ihr zu groß gewesen sein, das teil-offene Konzept habe ihr nicht gepasst, heißt es von der Stadt. Aber es ist auch bekannt, dass die 25-Jährige in allen ihren vorhergehenden Kitas Probleme hatte. Zwei bescheinigten ihr, unfähig für den Beruf zu sein. Zuletzt hatte sie nicht einmal die Probezeit bestanden.

Warum griffen Schutzmechanismen in Kitas nicht?

Warum hat man sie dennoch in Viersen angestellt? Auch der Kinderschutzbund NRW fragt, „warum die verschiedenen Mechanismen, die Kinder vor Gewalt schützen sollen, bei dieser Mitarbeiterin in den verschiedenen Kitas nicht gegriffen haben“, sagt Landesgeschäftsführerin Krista Körbes. Auch an allen früheren Arbeitsplätzen der Mordverdächtigen, in Krefeld, in Kempen und in Tönisvorst, kam es dazu, dass Kinder unerklärlicherweise an Atemnot litten. Und immer war es die Erzieherin, die die Kinder in Not scheinbar entdeckte und Hilfe rief.

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Ein Muster, das an das Klischee vom Brandstifter bei der Feuerwehr erinnert. Das haben jedoch erst die Ermittler herausgefunden, Meldungen an das Landesjugendamt scheint es nicht gegeben haben – der Kinderschutzbund hat nun dort eine Anfrage gestellt.

Kinderschutzbund sieht Zusammenhang mit Fachkräftemangel

Natürlich ist es möglich, dass die Kollegen und Eltern an gesundheitliche Probleme der Kinder glaubten. Doch „es stellt sich auch die Frage, ob angesichts des andauernden Fachkräftemangels einige Kitas zögern, bei einer Nichteignung zu kündigen und Verdachtsfälle nicht melden“, so Landesgeschäftsführerin Körbes weiter.

Hier wird aus ihrer Sicht ein grundsätzliches Problem deutlich. Gerade für die wichtige Arbeit mit Jungen und Mädchen müssten genug Fachkräfte zur Verfügung stehen, sodass ungeeignetes Personal zeitnah entlassen oder gar nicht erst eingestellt wird. Die Ursachen dafür, wie eine zu geringe Bezahlung, müssten dringend geändert werden, um solche schrecklichen Einzelfälle zukünftig zu verhindern.

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Tatsächlich bestätigen auch einfache Erzieher, dass es im Alltag schwer sein kann, auf Verfehlungen im Kollegenkreis hinzuweisen. Eine Erzieherin aus dem westlichen Ruhrgebiet berichtet: „Die Leiterin meiner ehemaligen Kita hat Kinder so angefasst, wie man es auf keinen Fall machen sollte. Sie hat Kinder grob in den Stuhl gezwungen, hat sie gezwungen, mit rechts zu essen. Hat sie mit dem Kopf ins Kissen gedrückt, wenn sie nicht schlafen wollten. Es waren keine Extremfälle von Gewalt, aber es war auch nicht mehr im Toleranzbereich.“

Kaum eine bewirbt sich auf Leiterstellen

Es habe schon entsprechende Beschwerden über die Frau gegeben, als sie noch normale Erzieherin in einer anderen Kita war. „Doch der Träger hat sie eben nicht entlassen, sondern sie weggelobt, weil die Leiterstelle frei war. Es gab keine anderen Bewerber. Man muss dazu sagen, dass Führungspositionen in kleinen Kitas nicht attraktiv sind. Sie hat exakt einen Euro mehr netto verdient, aber für sie hat es sich gelohnt. Sie kam in eine neue Kita und es ging ihr auch um Macht.“

Die Außenansicht der städtischen Kindertagesstätte „Steinkreis“ in Viersen. Hier geschah die Tat.
Die Außenansicht der städtischen Kindertagesstätte „Steinkreis“ in Viersen. Hier geschah die Tat. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

„Wir hatten regelmäßig Streit um ihr Verhalten“, berichtet die erfahrene Erzieherin. „Ich habe sie mehrmals aus meiner Gruppe geworfen, obwohl sie meine Chefin war. Mit mehreren Kollegen haben wir uns beim Träger und beim Betriebsrat beschwert, aber sie hat uns Sachen unterstellt, so dass auch wir uns rechtfertigen mussten. Das Ende vom Lied war nach eineinhalb Jahren, dass die Teams neu zusammengestellt wurden. Ich habe kurz darauf gewechselt. Sie ist immer noch Leiterin, obwohl sie auch mit den Eltern regelmäßig Stress hatte. Aber das waren sozial schwache Familien, die beschweren sich selten offiziell.“ Aus ihrer Sicht ist dies eine Folge des „extremen Fachkräftemangels“.

Arbeitszeugnisse wurden offenbar nicht überprüft

Offenbar sind die Arbeitszeugnisse der Erzieherin vor ihrer Einstellung in Viersen nicht überprüft worden. Die Stadt beschreibt den Vorgang so: „Arbeitszeugnisse werden oft erst mit zeitlicher Verzögerung erstellt. Für zum Zeitpunkt der Bewerbung bestehende, ungekündigte Arbeitsverhältnisse liegen regelmäßig keine Zeugnisse vor.“ Viersens Bürgermeisterin Sabine Anemüller hatte der „Bild“-Zeitung erklärt, dass Arbeitszeugnisse einfach nicht üblich seien, vor allem, wenn Erzieherinnen aus ungekündigten Arbeitsverhältnissen kämen.

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Allerdings war die Mordverdächtige zuvor nur knapp drei Monate in Tönisvorst angestellt und hatte dort ihre Probezeit nicht bestanden. In Viersen allerdings sei die Frau in ihrer Probezeit eng begleitet und beobachtet worden, so die Stadt. Es habe für die Kita-Leitung und andere Mitarbeiter keine Anhaltspunkte für Bedenken gegeben, es habe auch keine Elternbeschwerden gegeben.

Kita-Verband: Mitarbeiter wird man nur schwer wieder los

„Dass das letzte Arbeitszeugnis noch nicht vorliegt, ist manchmal so“, erklärt Waltraud Weegmann, Vorsitzende des Deutschen Kita-Verbands, dieser Zeitung. „Aber wir gucken schon, dass wir es nachgereicht bekommen. Grundsätzlich zu sagen, man verzichtet auf Zeugnisse, ist mehr als unüblich. Und gerade wenn jemand so oft wechselt, sollte es einem komisch vorkommen und dann muss man besonders intensiv nachfragen.“ Allerdings weist sie darauf hin, dass „mangelnde Empathie“ gar nicht in ein Arbeitszeugnis aufgenommen werden dürfe. „Deshalb sind letztendlich alle Zeugnisse Makulatur“, sagt Weegmann.

Es bestehe allerdings eine Meldepflicht der Kitas gegenüber den Jugendämtern, wenn es konkrete Verdachtsmomente für körperliche Übergriffe gebe. „Die gibt es aber oft nicht“, sagte Weegmann. Unter der Hand dürften sich die Einrichtungen aus rechtlichen Gründen nicht austauschen. Arbeitsrecht und Datenschutz gingen häufig auf Kosten der Kinder.

Immer mal wieder würden Erzieherinnen nicht die besten Voraussetzungen für den Beruf mitbringen. „Es ist oft schwierig, einen ungeeigneten Mitarbeiter loszuwerden. Das ist für viele auch eine heikle Aufgabe.“ Das sei nicht nur eine Aufgabe der Kita-Leitung. „Die Qualität des Trägers ist oft nicht gut genug. Sie verstehen oft gar nicht, dass gute Führung ihr Thema ist. Dabei ist das entscheidend. Wir müssen dahin kommen, dass wir das selbstverständlich einfordern.“

Kita in Krefeld stellte ein „verheerendes“ Arbeitszeugnis aus

Allerdings scheinen die Kitas in Krefeld und Tönisvorst doch deutlich geworden zu sein, wie die Ermittler erklärten. Im ersten Fall sei das Arbeitszeugnis „verheerend“, die Frau sei „völlig empathielos“ und für ihren Beruf ungeeignet. Letzteres beschied ihr auch die Einrichtung in Tönisvorst. Auch die Erzieherin aus dem Ruhrgebiet sagt, dass Arbeitszeugnisse „selbstverständlich eine große Rolle spielen. Wie will man sonst etwas erfahren über die Bewerber. In meiner jetzigen Kita bespricht die Chefin mit uns die Bewerbungen, die Neuen sollen ja ins Team passen. Wir Erzieherinnen lesen dann alle die Zeugnisse. Aber das macht jede Kita anders.“