Düsseldorf. Missbrauch, Rechtsterroristen, Polizei-Pannen - der NRW-Innenminister widerlegt gerade die These, dass Skandale einen Politiker beschädigen. Wie?

Am Anfang stand das unbedachte Wort. „Das ist Behördenversagen an allen Ecken und Kanten“, sagte Herbert Reul Anfang 2019 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zum Missbrauchsskandal von Lügde. Der nordrhein-westfälische Innenminister konnte sich damals auf keine gesicherten Erkenntnisse stützen, sondern ließ einfach den Bauch sprechen. Wenn ein Pflegekind in die Obhut eines alleinstehenden Arbeitslosen auf eine verdreckte Campingplatz-Parzelle gegeben wird und über Jahre weder Jugendhilfe noch Polizei deutlichen Hinweisen auf sexuelle Verbrechen an dem Mädchen nachgehen – wie soll man das sonst nennen?

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Die klare Sprache brachte Reul zunächst in Bedrängnis. Die Opposition im Landtag warf ihm vor, Verantwortung nach unten wegzutreten. Im Polizei-Apparat rumorte es, weil der oberste Dienstherr den in Sicherheitsbehörden so wichtigen Korpsgeist verraten hatte: Man beschmutzt nie das eigene Nest und gesteht Fehler erst zu, wenn sie nicht länger zu leugnen sind.

Es ist wieder ein Grundvertrauen da, dass der Staat die Lage in den Griff bekommt

Knapp eineinhalb Jahre später steht Reul so blendend da, wie kaum ein NRW-Innenminister vor ihm. Die Bild-Zeitung feiert ihn als „Aufräum-Reul“. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung empfiehlt seine Entschlossenheit gegen Pädokriminelle sogar den 15 Länderkollegen zur Nachahmung. Kinderschänder, Clan-Kriminelle, Rechtsterroristen – es vergeht kaum ein Tag, an dem Reuls Rezepte gegen üble Zeitgenossen nicht den Weg in die Medien finden. Umfragen bescheinigen der ansonsten mittelmäßig benoteten Landesregierung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) im Kompetenzfeld Innere Sicherheit einen hohen Zuwachs an Bürgerzufriedenheit. Nach Jahren der rot-grünen Dauerkrise ist wieder ein Grundvertrauen da, dass der Staat die Lage in den Griff bekommt. Die AfD fristet derweil in NRW ein Schattendasein.

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Reul erbringt offenbar gerade den Nachweis, dass Skandale nicht zwangsläufig das Ende eines Ministers sein müssen: Die monströsen Missbrauchsfälle von Lügde, Bergisch Gladbach und Münster. Ein Polizeibediensteter in Hamm als mutmaßlicher Unterstützer eines rechtsterroristischen Netzwerks. Pannen bei der Inhaftierung des Syrers Amad A., der Opfer einer Verwechselung wurde und im Klever Gefängnis zu Tode kam. Trotzdem bekommt die Opposition diesen Herbert Reul nicht zu fassen. Man fragt sich: Wie macht er das?

Der bald 68-jährige CDU-Mann ist weder Jurist noch gelernter Innenpolitiker. Er ist Lehrer und unterrichtete in den 80er Jahren Sozialwissenschaften am Städtischen Gymnasium in Wermelskirchen, bevor er Landtagsabgeordneter und Generalsekretär der NRW-CDU wurde. Reul wollte im Sommer 2017 seine Laufbahn als Wirtschaftsexperte im Europaparlament ausklingen lassen und war gerade auf dem Weg in die Wuppertaler Oper zur Aufführung von „Rigoletto“, als sein alter Vertrauter Laschet anrief und ihm das Ministeramt antrug. Seither führt er vor, wie man Verantwortung wahrnehmen und Veränderungen anschieben kann.

Zugetraut haben Reul diese Alterskarriere die Wenigsten

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Zugetraut hat ihm das kaum jemand. Als Reul in Düsseldorf seinen Dienst aufnahm, verteilte er zum Einstand auf der Dachterrasse des Innenministeriums Brüsseler Pralinen an Journalisten und stürzte sich so unbedarft-staunend in die neue Aufgabe, dass mancher zweifelte: Ist das wirklich der harte Hund, den die CDU nach den unglücklichen Jahren des SPD-Innenministers Ralf Jäger herbeisehnte?

Reul lädt dazu ein, ihn zu unterschätzen. Er lacht viel, spricht schnell und liest ungern Redetexte vom Blatt ab. Er hat die lustige Angewohnheit, sich mitten im Satz selbst zu korrigieren, was dann manchmal so klingt: „Es ist für mich völlig unverständlich, dass...Nein, nicht völlig, ich verstehe das schon, aber...“ Die breitbeinige Pose als personifizierter Rechtsstaat liegt ihm nicht, er kokettiert vielmehr mit seiner späten Ministerkarriere. „Dafür bin ich wohl zu alt“, sagt er häufig, wenn er mit etwas fremdelt, oder er preist die Unabhängigkeit eines Spätberufenen: „In meinem Alter gehen andere in Rente, ich darf noch mal etwas ganz Neues machen.“ Er nutzt gern antiquierte Metaphern vom Schlage „klar wie dicke Tinte“, nennt einen Laptop „Maschine“ und verwechselt schon mal Festplatten mit Disketten. Er wirkt dann wie Onkel Herbert.

All das täuscht leicht darüber hinweg, dass Reul über zwei Eigenschaften verfügt, die im schwierigen Innenressort unbezahlbar sind: Er hat eine feine politische Nase für strukturelle Probleme und ein goldenes Händchen für gute Leute. Nur so konnte er überhaupt zu einer Art Star der Regierung Laschet werden.

Er schafft immer neue Loyalitäten, um sich nicht abhängig vom Apparat zu machen

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Der Umgang mit dem Missbrauchsskandal von Lügde steht beispielhaft für die Methode Reul. Die Verbrechen an Kindern in Ostwestfalen wurden zum Ausgangspunkt für umfassende Strukturveränderungen bei der Polizei. Weil damals eine völlig überforderte Landratsbehörde vor sich hin ermittelte und sogar Asservate verschwanden, berief Reul den Leitenden Kriminaldirektor Ingo Wünsch, einen exzellenten Kripo-Mann, als seinen persönlichen Sonderermittler und ließ eine „Stabsstelle“ ein Jahr lang den Kampf gegen Kindesmissbrauch komplett neu organisieren. Fortan sind die großen Kriminalhauptstellen im Land zuständig, und die Auswertung von kinderpornografischem Material wird mit Hilfe des Landeskriminalamtes wie in einem virtuellen Großraumbüro NRW-weit organisiert. Es wurde eine neue Fachaufsicht bei den Landesoberbehörden eingezogen, damit die in der Polizei oft schwierige Fehlerkultur verbessert wird. Die Zahl der Ermittler im Bereich Kinderpornografie hat sich vervierfacht.

Reul stellt seit Monaten klar: „Missbrauch ist wie Mord.“ Der Minister putzt in Berlin Klinken, damit der Strafrahmen zur Ahndung von Missbrauchstaten erhöht und rechtliche Ermittlungshindernisse beiseite geräumt werden. Selbst als auf dem Höhepunkt der Corona-Krise keiner mehr von Kindesmissbrauch sprach, verfolgte Reul das Thema mit einer in der schnelllebigen Politik seltenen Ausdauer.

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Man merkt, dass dem Vater von drei erwachsenen Töchtern die Verbrechen an Kindern persönlich nahe gehen. Doch auch in anderen Feldern greift Reul durch: Er verdonnerte jede der 47 Polizeibehörden zur Berufung eines „Extremismus-Beauftragten“, um braune Schafe in den eigenen Reihen schneller aufzuspüren. Den kriminellen Clans im Ruhrgebiet rückt er mit regelmäßigen Razzien zu Leibe, verfolgt aber zugleich den Präventionsansatz der rot-grünen Vorgängerregierung weiter. Deren zahlreichen Aussteigerprogrammen für junge Extremisten wurde nun eins für gutwilligen Clan-Nachwuchs hinzugefügt.

Reul denkt nicht in den Kategorien von Gesichtsverlust

Reul denkt eben nicht in den Kategorien von Gesichtsverlust. Er verlässt sich auf seinen politischen Instinkt und macht, was er für richtig hält. Er fühlt sich ziemlich frei, weil er nichts mehr werden muss. Wenn er sich verrennt wie im ersten Formulierungsvorschlag für das neue Polizeigesetz des Landes, kann er sich korrigieren. Als er einmal unbedacht einer Journalistin am Telefon eine harsche Justiz-Schelte in den Notizblock diktierte, war er nach dem einsetzenden Proteststurm in der Lage, sich zu entschuldigen. Als ehemaliger Generalsekretär weiß Reul, dass es ein großes Übel vieler Politiker ist, dass sie Falsches häufig als Variation des Richtigen darstellen wollen und damit alles nur noch schlimmer machen.

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Möglich ist diese Alterskarriere wohl vor allem, weil Reul die eigenen Schwächen kennt. Ähnlich wie Ministerpräsident Laschet ist er impulsiver Rheinländer, gedanklich schnell und trifft aus der Emotion heraus nicht immer die klügsten Entscheidungen. Nur hat Reul sich dafür ein hochprofessionelles Umfeld geschaffen, das ihn glänzen lässt und die Risiken eindämmt. Wer bei seiner Berufung vermutet hatte, Staatssekretär Jürgen Mathies, einer der erfolgreichsten Polizisten des Landes, werde als „heimlicher Innenminister“ den Laden schmeißen und Reul bloß die Grußworte halten, hat die Methode Reul nicht verstanden.

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Er begibt sich nie in nur eine Hand. Als Chef von 50.000 Polizisten, von denen sich viele seit der Ausbildung kennen, schafft Reul sicherheitshalber immer neue Loyalitäten. Er holte als Polizei-Abteilungsleiterin Daniela Lesmeister dazu, die früher selbst Streife in Gelsenkirchen lief und später in Jura promovierte. Die Führung seines Ministerbüros überlässt er Verwaltungsprofis, die ganz anders ticken als er selbst. Reul hört auf ministerielle Quereinsteiger wie Sonderermittler Ingo Wünsch oder die Verwaltungsrichterin Katharina Jestaedt, die er Anfang Juni als Abteilungsleiterin für Digitales neu verpflichtet hat. Zugleich nutzt er Wissen und Erfahrung etablierter Experten, die noch von seinen Vorgängern berufen wurden und ausdrücklich keine CDU-Nähe haben. Landeskriminaldirektor Dieter Schürmann gehört ebenso zu diesem Kreis wie Verfassungsschutz-Chef Burkhard Freier. Die Außendarstellung hat Reul in die Hände seines Sprechers Gerrit Weber gelegt, der als Volljurist und gelernter Fernsehjournalist viele Talente vereint und unter den NRW-Korrespondenten in Düsseldorf höchste Anerkennung genießt.

Im eingespielten „Team Reul“ wirkt der Chef gelegentlich wie der einstige Studienrat aus Wermelskirchen, der ziemlich stolz darauf ist, wie gut seine Klasse mitarbeitet. Das Klassenziel „Mehr Sicherheit für NRW bis 2022“ scheint dieser ungewöhnliche Innenminister damit allemal zu erreichen.

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