Ennepetal/Duisburg/Oberhausen. Die Zahl der Kinder in der Notbetreuung wächst. Die Kitas versuchen das Unmögliche: Hygiene und Distanz zwischen Wickeltisch und Spieleecke.

„Corona-Abstand!“ rufe ihr vierjähriger Enkel mittlerweile immer laut, erzählt Ulla Wacker, „dann streckt er immer seine Ärmchen so weit nach vorne aus wie er kann.“ Die 63-Jährige verantwortet den Bereich Kinder und Familien beim Awo-Unterbezirk Ennepe-Ruhr, ist dort allein für 30 Kindertageseinrichtungen mit rund 2800 Kindern zuständig.

Die Idee ihres Enkels ist gut, die Lösung der Coronakrise vor allem in den Kitas aber deutlich komplexer. Allein im von Wacker verantworteten Bereich sind zehn Prozent des pädagogischen Personals älter als 60 Jahre. Sie gehören damit der besonders von Covid-19 gefährdeten Risikogruppe an. Die chronisch Erkrankten und Schwangeren sind da noch gar nicht eingerechnet. Für hunderte Einrichtungen im gesamten Land wird die Puzzlearbeit erst noch beginnen: Am Mittwoch erst hat die Landesregierung die schrittweise Rückkehr in den Kita-Alltag bis zu den Sommerferien angekündigt – zunächst mit einer noch nicht näher beschriebenen Erweiterung der Notgruppen-Betreuung.

„Aktuell werden 180 Kinder betreut. Normalerweise sind es 2800“

Die wird Woche für Woche mehr in Anspruch genommen: Seit am Montag die Kinder berufstätiger Alleinerziehender zurückkehren durften, sind auch sämtliche Awo-Einrichtungen in Ulla Wackers Bezirk wieder geöffnet. 180 Kinder würden aktuell im Schnitt betreut. Für Wacker und ihre Teams ist das zurzeit noch problemlos machbar, sagt die Sozialpädagogin: Wie viele andere Träger bildet die Awo so genannte „Settings“, in denen nur wenige Kinder vom immer gleichen Personal betreut werden.

Ulla Wacker ist Bereichsleiterin „Kinder und Familie“ der Awo im Unterbezirk Ennepe-Ruhr-Kreis.
Ulla Wacker ist Bereichsleiterin „Kinder und Familie“ der Awo im Unterbezirk Ennepe-Ruhr-Kreis. © AWO | AWO

Auf Grundlage einer Fach-Empfehlung des NRW-Familienministeriums versuchen die Kitas aktuell, das Unmögliche möglich zu machen: Abstands- und Hygieneregeln dort umzusetzen, wo gewickelt und geweint, geschrien und gelacht wird. Da die Eltern die Kitas nicht betreten dürfen, haben viele Einrichtungen improvisierte Sicherheitsschleusen gebaut: auf Hinterhöfen, in Fluren, zwischen Tür und Angel werden die Kinder nun morgens gebracht und nachmittags wieder abgeholt.

Die empfohlenen Hygieneregeln seien für die Kitas kein Problem, weiß Wacker: „Es gibt in den Kitas schon sehr lange Musterhygienepläne, da sich Krankheiten wie das Norovirus oder Hand-Mund-Fuß schnell bei Kindern verbreiten. Da sind wir erprobt.“ In den Plänen wurde schon vor Ausbruch des Coronavirus im Detail aufgelistet, wie viele Seifen- und Desinfektionsspender wo zu stehen haben und was beim Wickeln zu beachten ist. Sogar die Kühlschranktemperatur müssen die Kindertagesstätten dokumentieren.

Gedanke an Schulkinder schmerzt Kita-Leiterin besonders

Auch interessant

Jede Menge Papierkram, der in den vergangenen Wochen ohne Kinder gut abgearbeitet werden konnte, weiß auch Uta Stötzel. Die 59-Jährige leitet die Kita „Christus-Unser Friede“ in Duisburg-Obermeiderich. Wo sonst 67 Mädchen und Jungen tobend und schreiend über die Flure rennen, sei es nun sehr leise geworden. Vier bis fünf Kinder kommen aktuell in die Notbetreuung: „Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber ich wünsche mir wieder das zurück, was Kinder an Leben und Bewegung hierher mitbringen. Deswegen haben wir diesen Beruf ja alle mal ergriffen.“

Auch interessant

Was die Erzieherin besonders schmerzt, ist der Gedanke an die Schulkinder: „Einige von ihnen begleiten wir nun vier Jahre. Die Erfahrung zeigt, dass Schulkinder im letzten halben Kita-Jahr oft noch einen enormen Entwicklungssprung machen. Sie alle womöglich nicht gebührend vorbereiten und verabschieden zu können, macht mich sehr traurig.“

Zwar bewiesen viele Kolleginnen große Kreativität, in dem sie regelmäßig Spiel- und Bastelanregungen verschicken, kleine Tüten mit Überraschungen für die Kinder an den Kita-Zaun hängen, Lieder bei Whatsapp einsingen. Aber nicht alle Familien würden diese dankbar annehmen und umsetzen, weiß auch Uta Stötzel: „Es gibt Familien, bei denen wir fürchten, dass der Alltag der Kinder im Moment sehr von Medienkonsum geprägt ist.“

„Der Kinderschutz steht im Augenblick vor einer großen Herausforderung“

Auch interessant

Um diese Kinder sorgt sich auch Marion Schmitz. Sie ist Gebietsleiterin beim katholischen Kita-Zweckverband und verantwortet 27 Einrichtungen in Oberhausen. „Der Kinderschutz steht im Augenblick vor einer großen Herausforderung“, sagt die 62-Jährige, die selbst 34 Jahre lang eine Kita geleitet hat. Auch in ihrem Zuständigkeitsbereich werden Kinder betreut, weil das Jugendamt das so will.

Denn Kinder, deren Wohl nach Paragraph 8a Sozialgesetzbuch gefährdet ist, haben ebenfalls einen Anspruch auf Notbetreuung. „Wir stehen aber auch mit den Familien in Kontakt, bei denen wir um Schwierigkeiten wissen, ohne dass das Jugendamt involviert ist“, sagt Marion Schmitz. Die Nöte seien groß, die Wohnverhältnisse mitunter beengt, die Zukunftssorgen mit der Coronakrise gewachsen.

Zahlen der Kinder in der Notbetreuung werden langsam weiter steigen

Marion Schmitz ist Gebietsleiterin beim katholischen Zweckverband und verantwortet 27 Kindertageseinrichtungen in Oberhausen.
Marion Schmitz ist Gebietsleiterin beim katholischen Zweckverband und verantwortet 27 Kindertageseinrichtungen in Oberhausen. © Achim Pohl | Achim Pohl

Auch im Kita-Zweckverband, der Träger von 260 Einrichtungen in ganz Nordrhein-Westfalen ist, steigt die Zahl der Kinder in der Notbetreuung. „Und ab der nächsten Woche werden es noch mehr, wenn die Friseure wieder öffnen und mehr Lehrer in den Schulen gebraucht werden“, prognostiziert Marion Schmitz.

Bei allen Bemühungen lasse sich eine Empfehlung in den Kitas kaum durchsetzen: Distanz, sagt Marion Schmitz: „Sie können speziell kleinere Kinder nicht auf Distanz halten, sie brauchen die Nähe, müssen getröstet werden. Und ihnen Hust- und Nies-Etikette beizubringen, ist ebenfalls schwierig.“

Sich davor mit Masken zu schützen, sei in der Kinderbetreuung schwierig, weiß Marion Schmitz. Zwar stellt es die Landesrichtlinie den Kita-Trägern frei, ob sie für ihre Mitarbeiter Masken vorschreiben. „Wir wollen nach Möglichkeit darauf verzichten. Gerade der Umgang mit kleineren Kindern lebt von der Mimik“, weiß Marion Schmitz.

Viele Erzieherinnen und Erzieher müssen mit einer großen Ungewissheit leben

Das habe aber auch zur Folge, dass viele Mitarbeiter mit einer großen Ungewissheit leben müssen. Denn auf das Virus getestet werden Kinder in der Notbetreuung bislang nicht. Die Eltern müssen lediglich schriftlich versichern, dass ihre Kinder gesund sind. Gleichzeitig seien die Erkenntnisse und Studienlage zu Covid-19 und der Infektionsgefahr durch Kinder noch sehr dünn.

Die Unsicherheit merke sie in vielen Gesprächen, sagt Marion Schmitz: „Natürlich haben viele in unseren Teams Sorgen und Ängste. Auch Erzieherinnen und Erzieher sind für mich Helden in dieser Krise.“