Duisburg. Rund 10.000 Menschen in Duisburg sind ohne Krankenversicherung. Pater Oliver und sein Team versuchen, zu helfen. Sie werden überrannt.
Die Patientenkarten bewahren die Helfer von Marxloh in einem Windelkarton auf, das Stethoskop und den Pulsmesser haben sie auf Ebay ersteigert, und an der Wand des Behandlungszimmers hängt eine „Bildkarte der Reisen des Apostels Paulus“, auf der die meisten Kranken zeigen könnten, woher sie kommen: aus Bulgarien und Rumänien. In Duisburg sollen etwa 10.000 Menschen ohne Krankenversicherung leben. Darum hat Pater Oliver in Marxloh im November eine „kostenlose Gesundheitssprechstunde“ gegründet – inzwischen wird sie so überrannt, dass der Pater selbst seine Behelfspraxis mit Lambaréné vergleicht, dem Urwaldspital von Albert Schweitzer. Übersetzt heißt Lambaréné: „Wir wollen es versuchen“.
Kinder ohne Impfungen, Schwangere ohne medizinische Betreuung
Eine 23-jährige Mutter mit ihrer vier Wochen alten Tochter sitzt im Durchgang des ehemaligen Pfarrhauses zu St. Peter, es ist ihr drittes Kind. Ein tätowierter Schlaks mit verwachsenem Kiefer macht putzi-putzi mit dem Baby, neben ihnen sitzt ein älteres Paar, er hat einen Humpelfuß. Eine Afrikanerin reiht sich ein, der Rest spricht bulgarisch oder rumänisch. Diesen Donnerstag sind rund 20 Hilfesuchende gekommen plus Kinder. Damit ist der enge Flur schon voll – dabei drängen an weniger heißen Tagen regelmäßig über 70 Hilfesuchende in die wöchentliche „Sprechstunde“.
„Man sieht und hört hier Dinge, die es in Deutschland nicht geben dürfte“, sagt Pater Oliver: Hochschwangere, die nie einen Arzt gesehen haben. Kinder ohne Impfungen. Krankenhäuser, die Kranke abweisen. „Zahnärzte, die fünfzig Euro cash auf die Theke wollen, dann gucken sie in den Mund. Man möchte es nicht glauben, aber wir haben einige Geschichten nachgeprüft. Sie waren nicht gelogen.“
Das Kind war schon blau angelaufen
Auch dem Chirurgen Hans-Peter Bottel – er hilft fast jede Woche im Petershof – ist noch gut die Szene in Erinnerung, als Eltern ihren halb toten Sohn über die Schwelle trugen. Kehlkopfschwellung. Er war schon blau angelaufen. Natürlich hätten die Eltern besser sofort zu einer Notaufnahme gehen sollen, aber offenbar gab es eine Schranke im Kopf. Offenbar glaubten sie, in einem Krankenhaus keine Hilfe zu bekommen. Die Helfer riefen einen Rettungshubschrauber, der Junge hat überlebt.
Die Hilfe in akuten Notlagen funktioniere schon, sagt Pater Oliver, aber sie sei in keinster Weise nachhaltig. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie einen Patienten mit Diabetes und einem Blutzuckerwert von 500 hier – er hatte schon starke Schwindelgefühle. Im Krankenhaus habe er zwar eine Insulinspritze bekommen. „Aber dann wird er ohne Medikamente nach Hause geschickt.“
Der Mann mit dem schlimmen Fuß humpelt, gestützt auf seine Frau, hinein zu Bottel und der Übersetzerin. Die Mutter trifft nebenan auf das Ärztepaar Ecker-Schweins. Und in einem dritten Raum erklärt die rumänische Krankenschwester Rodika Domitren dem kleinen Florid Paul das Stethoskop, während Mutter Florina ihr viertes Kind im Wagen wippt. Sie wirkt blass, gelblich.
Warum haben diese Menschen keine Krankenversicherung?
Menschen ohne Krankenversicherung: Dieses Problem haben in Duisburg vor allem zwei Gruppen: Den weitaus kleineren Teil machen „Menschen ohne Papiere aus“, heimliche Einwanderer, die befürchten müssen, gemeldet und abgeschoben zu werden, wenn sie sich regulär behandeln lassen. (Wer Asyl beantragt, hat dagegen Anspruch auf eine medizinische Notversorgung.)
Die Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien allerdings haben in den meisten Fällen durchaus Anspruch auf Versicherungsschutz in ihren Heimatländern – es gibt dort eine steuerfinanzierte Krankenversicherung für alle Bürger –, aber sie haben ihn offenbar nie beantragt. Weil sie nicht informiert sind, weil für Roma Diskriminierung an der Tagesordnung ist, weil sie dem Staat misstrauen … Und wer sich tatsächlich in Deutschland wohnhaft meldet, muss sich auch hier versichern, was ohne Arbeit wiederum oft hakelt.
„Clearingstellen“ sollen helfen
Das Landesgesundheitsministerium sieht hier kein rechtliches Problem, sondern eines der Umsetzung. Zumal es sehr aufwändig ist, Einzelfälle mit den Behörden in Südosteuropa zu klären. Und es sieht Informationsdefizite auch bei Ämtern, Beratern und Krankenhäusern, bei Kassen und den Ärzten. Darum hat das Ministerium Ende Juni den Städten die Einrichtung von „Clearingstellen“ empfohlen, in denen Zuwanderern geholfen werden soll, ihren Versicherungsstatus zu „klären“. Land und EU übernehmen bis zu 90 Prozent der Kosten. Duisburg hat Interesse bekundet.
Lange Monate hat Pater Oliver um Unterstützung der Stadt Duisburg geworben. Hat selbst mit Krankenhäusern verhandelt, dass „seine“ Patienten behandelt werden, wenn der Petershof sie „überweist“. Ja, die Helfer haben sogar inoffizielle „Überweisungsformulare“ entworfen – damit die Ärzte über ihre Patienten kommunizieren können, aber auch, weil das System offenbar Formulare braucht. Pater Oliver hat auch davor gewarnt, dass Masern, Mumps und die Röteln wieder grassieren könnten. Die Stadt Duisburg hat reagiert, hat ihr Impfangebot zum Juli vom Gesundheitsamt in den Petershof verlegt, weil die Zielgruppe schlicht Ämter meidet.
Duisburgs Probleme sind einzig im Lande
Die rund 15 Ärzte, die hier Grundversorgung leisten, bleiben aber auf sich gestellt. „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, ein paralleles Krankenversicherungssystem aufzubauen“, sagt Oberbürgermeister Sören Link bei der ersten Impfaktion in Marxloh. Wie Pater Oliver im Kleinen, so fühlt sich Duisburg im Großen allein gelassen mit den rund 12.000 Zuwanderern aus Südosteuropa – so viele wie nirgends sonst im Land, mit weitem Abstand.
Nur sind die Menschen ja jetzt krank.
Bottel hat den Fuß des humpelnden Herren verarztet. „Venenthrombose, Kompressenverband. Dazu Medikamente gegen Bluthochdruck, die er sich nicht leisten kann.“ Die Mutter Florina habe Hepatitis, sagt Rodika Domitren. Und das Neugeborene im dritten Raum hat eine Pilzinfektion, ist dehydriert, hat Fieber. Die Mutter verlässt den Petershof mit Salben und Babynahrung. (Mitarbeit: Thomas Richter)