Recklinghausen. Vielerorts in NRW verabschieden sich Tierkliniken vom Notdienst - nicht in Recklinghausen. Warum halten die Tierärzte hier durch? Ein Besuch.

Sonntag ist es, aber der Parkplatz ist voll. Anne Henn (32) und Martina Pichler (34) winken ab. „Eigentlich ist es eher ruhig.“ Bleibt es aber nicht. Irgendwann „kommt der Bus“, wie sie hier sagen in der Kleintierklinik AniCura in Recklinghausen. Soll heißen: Dann kommen die tierischen Patienten in Scharen und alle auf einmal. Hunde, Katzen Vögel. Haben Fieber, Flöhe, sich den Fuß gebrochen oder den Magen verdreht. Und es werden immer mehr, die kommen. Denn es gibt immer weniger Tierkliniken im Ruhrgebiet.

Man erkennt die weite Anreise schon an den Kennzeichen der Autos, die vor der Praxis stehen. OB steht darauf und HA oder MK. 90 Minuten sei er gefahren, erzählt ein Mann aus der Nähe von Arnsberg. Aber was soll er machen? „Ich habe das Gefühl, dass es meinem Hund nicht gut geht. Der läuft so komisch.“ So komisch, dass Herrchen nicht mehr warten will, bis sein Haustierarzt wieder geöffnet hat am Montag – auch wenn er beim Notdienst den dreifachen Behandlungssatz zahlt. „Früher konnte man in vielen Praxen am Wochenende jemanden erreichen“, erinnert sich eine Mittsechzigerin aus Bochum. Früher ist lange her.

Vom Internisten bis zum Augenarzt - Spezialisten für alle Bereiche

Mittlerweile gibt es kaum noch einen klassischen Tierarzt, der einen Notdienst anbietet. Muss er – anders als in den übrigen Bundesländern - laut NRW-Heilberufsgesetz auch nicht. Die Aufgabe übernehmen hier meist Tierkliniken. Im Grunde sind das große, meist sehr modern ausgestattete tiermedizinische Einrichtungen mit angegliederten Stationen, die 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr geöffnet haben. Operationssäle gibt es dort, Intensiv- und Isolierstation und Spezialisten für alle Bereiche – vom Chirurgen, über Internisten und Kardiologen bis hin zum Orthopäden und Augenarzt.

Bald wissen Herrchen und Frauchen mehr. Anna Henn und Martina Pichler beim Ultraschall mit einem tierischen Patienten
Bald wissen Herrchen und Frauchen mehr. Anna Henn und Martina Pichler beim Ultraschall mit einem tierischen Patienten © FunkeFotoServices | Kai Kitschenberg

20 solcher Kliniken für Kleintiere hat NRW derzeit. Vor fünf Jahren waren es noch 37. Ende vergangenen Jahres etwa hat die Tierklinik Düsseldorf-Zentrum ihren nächtlichen Notdienst eingestellt und seit dem 1. Juli heißt auch die ehemalige Tierklinik Asterlagen in Duisburg nur noch „Kleintierzentrum“. Berthold Menzel, Chef der Recklinghäuser Tierklinik kann die Schließungen nachvollziehen. „Der 24 Stunden-Betrieb ist extrem personalintensiv und damit sehr teuer“, sagt er. Außerdem werde es immer schwieriger, Personal zu finden. „Es will kaum noch jemand nachts oder am Wochenende arbeiten.“

Nicht alles ist eine Fall für den Notdienst

Zumal der Dienst stressig ist. „Irgendwas ist immer“, sagt Martina Pichler, die sich auf Chirurgie spezialisiert hat. Den ganzen Sonntag über geben sich Hunde- und Katzenhalter die Klinke in die Hand. Manches ist eigentlich kein Fall für den Notdienst. „Flöhe oder eine Zecke muss man nicht in der Nacht oder am Wochenende entfernen lassen“, sind sich Henn und Pichler einig. Andererseits können sie verstehen, „dass die Leute sich Gedanken machen“, übervorsichtig sind. „Für viele gehört ein Tier einfach zur Familie.“

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Am frühen Nachmittag ziehen die Tierärztinnen Bilanz der letzten Stunden: eine geschwächte Katze, die nicht fressen will, ein Hund, bei dem sich ein Stück eines geklauten Knochens in der Speiseröhre verkantet hatte und eine Taube mit gebrochenem Flügel. Keine Kleinigkeiten, aber lösbar. Erleichtert verlassen ihre Besitzer die Klinik.

Tierärzte stecken oft in einer psychischer Notlage

„Alles wieder gut“, freut sich Holger Orchert aus Gelsenkirchen. Und sein sechs Monate alter Hund Mogli bestätigt das, indem er – ohne Knochenrest in der Speiseröhre – draußen auf der Wiese tobt. Drinnen sitzen neu eingetroffene Herrchen und Frauchen derweil mit besorgten Gesichtern am Empfang und warten, bis ihre Schützlinge an der Reihe sind. Und manchmal ist die Sorge berechtigt, wie sich zeigt, wenn sie später mit Tränen in den Augen, lose Leine oder leeres Körbchen in der Hand, die Klinik wieder verlassen.

Visite in der Tierklinik. Auch das Herz wird abgehört.
Visite in der Tierklinik. Auch das Herz wird abgehört. © FunkeFotoServices | Kai Kitschenberg

„Natürlich leidet man immer mit“, sagt Martina Pichler. „Wenn das irgendwann nicht mehr der Fall ist, müsste ich den Beruf wechseln.“ Doch bei aller Empathie, „man muss auch über Geld reden“, sagt Anna Henn. „Wir sagen im Vorfeld klar, was die Behandlung kostet.“ Das ist nicht immer einfach, denn nicht jeder Kunde kann das zahlen, was die Gebührenordnung veranschlagt. „Tierärzte“, sagt Menzel, „stecken oft in einer psychischen Notlage.“

Ärzte empfehlen, über eine Versicherung nachzudenken

Röntgen, Ultraschall, Operation, Nachsorge, - manchmal kommt da einiges zusammen, bis Hund oder Katze wieder fit sind. „Deshalb raten wir zu Tierversicherungen“, sagt Menzel. Das machen die meisten in der Branche und verweisen auf Länder wie England oder die Niederlande. „Da ist das schon lange üblich.“ „Damit haben wir uns auch schon beschäftigt“, sagt Holger Orchert. Aber noch zögert die Familie nach Warnungen aus Kollegenkreisen. „Solche Versicherungen sollen ziemlich teuer sein und alles wird trotzdem nicht übernommen. Mal sehen, was wir machen.“ Angebote vergleichen und sich gut informieren, empfiehlt Menzel und hofft ansonsten auf ein Umdenken in der Gesellschaft. „Was wir machen, ist oft High-End-Medizin. Die muss einfach bezahlt werden.“

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In der Klinik ist derweil Visite. Wie geht es dem Hund mit der schweren Blasen-OP, wie der Hündin, der man die Gebärmutter entfernen musste? Und warum bricht der Welpe immer noch alles voll? Oft sind es schwierige Patienten, die in der Klinik landen. Aber genau das liebt Pichler an diesem Job. Helfen will sie, wo andere nicht mehr weiterwissen. „Ich wollte schon Tierärztin werden, als ich gerade vier Jahre alt war“, erinnert sie sich und will deshalb gar nicht von Beruf sprechen. „Für mich“, sagt sie, „ist das eher Berufung.“