Ruhrgebiet. . Durch Krankenhausinfektionen sterben jährlich tausende Patienten. Jeder dritte Todesfall wäre vermeidbar, so Experten – es fehlen Infektiologen.

Das Risiko, sich bei Operationen im Krankenhaus eine Infektion zuzuziehen, ist ungleich verteilt, hat die AOK Rheinland/Hamburg in ihrem „Gesundheitsreport“ vom März dargestellt. Über Leben und Tod entscheidet vor allem die Behandlung einer Sepsis, im Volksmund Blutvergiftung genannt – hier liegt die Sterblichkeit in einigen Ruhrgebietsstädten über dem Durchschnitt von 30,5 %. In Mülheim endete fast jeder zweite Fall tödlich (45,1 %), in Oberhausen sind es 36,3 %, in Essen 34,1 % und in Duisburg 32,5 %. Christoph Rupprecht, Leiter der Gesundheitspolitik bei der AOK, sprach von „regionalen Auffälligkeiten, die regional diskutiert werden müssen.“ Dies ist nun der Stand:

Das sagen die Kritiker

Die AOK hat viel Kritik auf sich gezogen mit ihrem Gesundheitsreport, wobei die Fachleute nicht die Höhe der Zahlen insgesamt anzweifeln, aber Unschärfe im Detail unterstellen und die Aussagekraft anzweifeln. Das Problem an der AOK-Studie sei, dass sie Patienten verunsichere, sagt etwa Lothar Kratz, Sprecher der Krankenhausgesellschaft NRW. Man müsse sich jedes Krankenhaus einzeln anschauen. Dass es möglicherweise Ausreißer gibt, bezweifelt aber auch Kratz nicht. „Das Problem der Sepsis ist weltweit ein Riesenthema. Man muss alles tun, damit man es in den Griff bekommt.“

Das tut etwa das Essener Netzwerk MRE (Multiresistente Erreger), auch dessen Leiterin Anne Eva Lauprecht, zugleich Leiterin der Krankenhaushygiene an den Ev. Kliniken Essen-Mitte, sagt:„Die Daten der AOK sind zur Beurteilung der Behandlungsqualität einzelner Kliniken wenig geeignet.“ Die Datengrundlage sind Abrechnungen nur der AOK-Versicherten; selbst wenn sie nach Alter und Schwere der Sepsis standardisiert sind, berücksichtigen sie nicht Schwerpunkte einzelner Häuser. „Viele Patienten kommen bereits mit einer Sepsis ins Krankenhaus, dies wird in den AOK-Daten nicht erfasst“, sagt Lauprecht.

Muss die AOK-Studie nicht dennoch eine Warnung sein?

Dass sich die Sterblichkeit bei den jährlich 68.000 Todesfällen durch Sepsis in Deutschland um ein Viertel bis ein Drittel senken lässt, ist im Grunde Konsens. Es geht vor allem darum, solche komplexen Infektionen schnell zu erkennen und adäquat zu behandeln, denn jede Stunde kann hier über Leben und Tod entscheiden. Im Fachjargon heißt das: „leitliniengerechte Behandlung“.

Das Problem: „Es mangelt nicht nur an Hygienikern sondern auch an Infektiologen“, sagt Peter Walger, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene. „Wenn sie mit an Bord sind, halbiert sich die Sterblichkeit.“ Doch er sagt auch: „Wir haben massive Qualitätsdefizite im Infektionsmanagement in Deutschland. Das gilt sowohl für die Verhinderung von Infektionen durch Krankenhaushygieniker als auch für die Behandlung dieser schweren Infektionen. Viele Krankenhäuser haben ein großes Potenzial in der Verbesserung der Sterblichkeit bei der Sepsis.“

Alleine bei einem der häufigsten Fälle von Sepsis, den Blutstrom-Infektionen durch Staphylokokkus aureus, werde über die Hälfte der Patienten „völlig unzureichend“ behandelt. Rund ein Viertel aller im Krankenhaus erworbenen Infektionen gehe auf postoperative Wundinfektionen zurück, so Walger. Andere entstünden zum Beispiel, weil Gefäßkatheter nicht richtig gelegt, unzureichend bedient oder nicht regelmäßig fachkundig kontrolliert werden. „Dabei zeigen viele Studien, dass derartige Infektionen fast vollständig verhindert werden können“, so Walger. Hygiene und Infektiologie seien gemeinsam erforderlich, um eine bestmögliche Versorgung der Patienten zu erzielen.

Warum gibt es diesen Fachkräftemangel?

Es gibt keinen Facharzt für Infektiologie in Deutschland (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern). Und nur wenige Ärzte machen die einjährige Zusatzweiterbildung, so dass es bundesweit nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) lediglich rund 300 Experten gibt. Einen Grund sieht die DGI unter anderem in mangelnden Ausbildungsplätzen und fehlenden Aufstiegschancen, denn es gibt bis auf wenige Universitäten keine eigenen Abteilungen für Infektiologie an deutschen Krankenhäusern.

Den Facharzt ersetzt momentan eine Fortbildung zum „Antibiotic Stewardship“-Experten (ABS), bei der es primär um den richtigen Einsatz von Antibiotika geht. „Aber die deutschen Krankenhäuser stellen überwiegend keine Ressourcen für diese Experten zur Verfügung“, klagt Walger. „Auf den Fahnen steht es überall“, doch den Ärzten mit dieser Zusatzqualifikation fehle die Zeit, weil sie mit ihrer Hauptaufgabe ausgelastet seien und nicht entsprechend freigestellt werden. Auch hier gehe es darum, so Walger, näher am kranken Patienten arbeiten zu können. „Die Leitlinien sehen eine halbe Stellen für ABS-Experten pro 250 Betten vor.“

„Wir stellen uns massiv dem Thema Sepsis“, sagt Lothar Kratz von der Krankenhausgesellschaft NRW – und verweist auf das Projekt „TELnet@NRW“, bei dem Krankenhäuser versuchen, Infektiologen per Internet ins Haus zu holen. „Bei leitliniengerechter Behandlung“ sei die Sterblichkeit um ein gutes Viertel zu verringern, heißt es auch hier in einem Positionspapier. In Pilotprojekten sei gezeigt worden, dass diese Werte erreicht werden können.

Was können Krankenhäuser noch tun?

Eine weitere Möglichkeit, die Hygiene-Standards zu verbessern, weist das „Netzwerk MRE“ (Multiresistente Erreger) in Essen auf. Unter Führung des Gesundheitsamtes vergibt es seit 2013 sein selbst erarbeitetes Siegel, das die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts übertrifft. Ziel war es nicht nur, von antibiotika-resistenten Keimen betroffene Patienten schon bei der Einweisung besser zu erfassen – sondern auch, die Verbreitung der Erreger über die Krankenhäuser hinaus zu vermindern durch Informationen, Fortbildungen und abgestimmtes Vorgehen.

Darum machen auch Heime und Rehakliniken, ambulante Pflegedienste, niedergelassene Ärzte und der Krankentransport mit, erklärt die Ärztliche Netzwerk-Leiterin Anne Eva Lauprecht. Reden hilft offenbar: „Je besser die Kommunikation, desto weniger werden die Erreger verbreitet.“ Alle 15 teilnehmenden Essener Häuser seien seit drei Jahren „auf Stand“, erklärt Marina Lorsch vom Gesundheitsamt. Überall sei nun Hygienefachpersonal angestellt, was angesichts des Fachkräftemangels ein Kraftakt gewesen sei.

Warum liegen die Zahlen in Mülheim so hoch?

Die AOK vergleicht Städte, um nicht einzelne Krankenhäuser zu nennen. Aus dem Marien-Hospital in Mülheim heißt es, dass man die Daten der AOK nicht nachvollziehen könne. „Seit vielen Jahren nehmen wir an der externen Qualitätssicherung teil“, sagt Sprecher Andreas Kalhöfer. Danach betrage die Sterblichkeit bei einer Sepsis 23,5 Prozent. „Das gehört zu den niedrigsten Werten in der Statistik.“

Für das Evangelische Krankenhaus Mülheim (EKM) trifft die Größenordnung aus der AOK-Studie jedoch zu. Die Krankenhaus-Leitung führt dies unter anderem darauf zurück, dass das Haus über eine große Onkologie verfügt, wo die Patienten durch die Krebstherapie oft stark immungeschwächt und dadurch viel anfälliger für Infekte sind. Das EKM nehme auch aus anderen Kliniken schwer Kranke auf, die dort nicht mehr adäquat versorgt werden können. Zudem habe Mülheim eine sehr alte Bevölkerung.

„Bei der Vorbeugung von Keimübertragungen gehören wir zu den führenden Krankenhäusern in Deutschland“, sagt die Hygienebeauftragte Gabriele Kantor – was auch die AOK-Studie bestätigt: Das Risiko sich zu infizieren, ist in Mülheim ist in Mülheim vergleichsweise gering (1,4 %, der Schnitt liegt bei 1,6%). Die Sterblichkeitsrate will das EKM mit einer guten Infektions-Prävention und einer noch schnelleren Diagnose durch einfache Tests und eine noch früher einsetzende Bekämpfung der Infektion senken, heißt es. (mit ah)

>> Info: Krankenhauskeime und Sepsis

Wie groß ist das Problem der Krankenhauskeime?

ONLINE VERSION Krankenhausinfektionen
ONLINE VERSION Krankenhausinfektionen © Miriam Fischer

Nach dem Europavergleich des „Surveillance Report“ durch die Europäische Gesundheitsagentur ECDS von 2016 tritt jedes Jahr bei etwa 604.000 Patienten in deutschen Krankenhäusern eine Infektion auf, die vorher nicht festgestellt wurde. Das entspricht 3,1 Prozent aller Patienten. Von diesen Betroffenen wiederum sterben 2,6 % an ihrer Infektion. Das sind etwa 15.700 Tote pro Jahr oder 43 pro Tag.

Wie steht Deutschland im europäischen Vergleich dar?

Deutschland liegt mit einer Infektionsquote im Krankenhaus von 3,1 % deutlich unter dem Europaschnitt von 4,1 %. Die Niederlande und Österreich zum Beispiel stehen mit 2,3 Prozent besser da, Italien mit 6 und Island mit 6,7 Prozent sind die Schlusslichter. Vor fünf Jahren lag Deutschland noch genau im Europaschnitt. Seitdem hat sich die Lage hier um 0,4 Prozentpunkte verbessert, während sie sich europaweit verschlechtert hat um 0,6 Punkte. Man muss zusätzlich berücksichtigen, dass die Patienten immer älter werden und die Behandlungsmethoden immer mehr an die Grenzen gehen.

Welche Rolle spielt die Sepsis

Sepsis – im Volksmund „Blutvergiftung“ – ist ein Oberbegriff für komplexe Krankheiten, die von Erregern in der Blutbahn verursacht werden. Sie kann unabhängig von anderen Infektionen auftreten oder als Folge, zum Beispiel durch eine Lungenentzündung. Darum ist die statistische Abgrenzung zu Krankenhausinfektionen schwierig. Einer 2016 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie zufolge erkranken etwa 280.000 Menschen im Jahr allein in Deutschland an einer Sepsis – jedoch nicht nur im Krankenhaus. Oft verlaufen die aus der Kontrolle geratenen Infektionen tödlich: Mit 68.000 Todesfällen ist die Sepsis die dritthäufigste Todesursache in Deutschland.