Sundern/Ruhrgebiet. . Ärzte hielten 86-Jährigen im Wachkoma gegen den Willen der Familie am Leben. Eine Patientenverfügung gab es nicht. Die Enkelin erstattet Anzeige.

Sie haben ihn nicht festgehalten, obwohl er ihr „Lieblings-Opa“ war. Oder vielleicht war er das auch gar nicht mehr, nach Wochen im Wachkoma, beatmet, künstlich ernährt, wundgelegen. Es kam der Tag, da Ehefrau, Tochter und Enkel eine Entscheidung trafen: „Wir wollen das nicht.“ Und Opa vor allem, der wollte das auch nicht, das wussten sie: so unerträglich leiden. Aber es waren Ärzte, die den 86-Jährigen nicht gehen ließen, sagt die Familie heute, ein halbes Jahr lang nicht. Sie hat die Mediziner angezeigt, eine Klage läuft.

Madeleine Hoffmann hat den Hut behalten. Opas grünen Filzhut, seine Armbanduhr, die einfach weiter geht, obwohl seine Zeit abgelaufen ist, und einen zerknickten Fünf-Euro-Schein, den der 86-Jährige im Krankenhaus nicht mehr ausgeben konnte. Er konnte gar nichts mehr zum Schluss. Nicht einmal sagen, dass er nicht mehr konnte. Früher hatte er das oft gesagt, „lieber sterbe ich, als dass ich solche Schmerzen ertrage“, „dann wäre ich lieber tot“ oder, im Herbst noch, „ach, wenn er mich doch holen würde“.

Ein letztes Foto zeigt ihn zufrieden auf dem Rollator

Als er nicht mehr sprechen konnte, hat er seinen Unwillen gezeigt: versuchte, sich den Beatmungsschlauch herauszureißen, die Magensonde, bis sie ihn in der Klinik festbanden an seinem Bett. „Er schüttelte den Kopf“, erinnert sich seine Enkelin Madeleine, „ihm liefen die Tränen.“ Der Palliativarzt Matthias Thöns, der eine Woche vor dem Tod des alten Mannes zum ersten Mal an seinem Bett stand, schreibt in einem Gutachten von „Schmerzmimik“ und „Verkrampfung der Arme bei weit aufgerissenen Augen“.

Opa Paul war schon lange krank gewesen, Darmkrebs, aber er lebte gut mit einem künstlichen Darmausgang; ein letztes Foto zeigt ihn zufrieden auf seinem Rollator. Ein „Bilderbuch-Oppa“, sagt Madeleine Hoffmann, sei er gewesen, „für seine Enkel hat er alles getan“. Hat ihnen das Schwimmen beigebracht, das Fahrradfahren, das Flechten, und wenn in der Schweinemast, wo der gelernte Steinmetz einst arbeitete, die Ferkel geboren waren, nahm er Madeleine und ihren Bruder mit. Als er die Rente durch hatte, zog er seiner Tochter aus der Gegend von Halle ins sauerländische Sundern nach. Madeleine sagt, er war, „wie man sich einen Opa wünscht“.

Madeleine Hoffmann mit einem Foto vom Lieblings-Opa. Auch seinen Hut und seine Uhr hat sie behalten.
Madeleine Hoffmann mit einem Foto vom Lieblings-Opa. Auch seinen Hut und seine Uhr hat sie behalten. © Kai Kitschenberg

Doch im September 2018 kamen die Bauchschmerzen zurück, der 86-Jährige wurde operiert, lieber das, „als mit den Schmerzen zu leben“, sagte der Opa. Nach zwei Tagen schon verlangte er nach Steak und Bratkartoffeln, doch dann war eine Lungenentzündung der Anfang eines Endes, das sich noch Monate hinziehen sollte. Auf dem Klinikflur, berichtet Madeleine, vor den Ohren wartender Fremder, habe ein Chirurg die Zustimmung zu einem Luftröhrenschnitt verlangt. „Sonst“, habe er gesagt, „können wir hier auch gleich den Stecker ziehen.“

„Wann hört das Leben auf, wann fängt das Leiden an?“

„Wir standen unter Druck“, sagt die Enkeltochter, eine Beratung habe nie stattgefunden. In verschiedenen Einrichtungen in Dortmund und Umgebung habe ihnen auch in der kommenden Zeit niemand gesagt, „dass es kaum eine Chance gab auf eine Rückkehr in ein menschenwürdiges Leben“. Selbst für die gelernte Arzthelferin war nicht absehbar, „wann hört das Leben auf, wann fängt das Leiden an“? Zumal der Opa immer wieder auch klare Momente hatte, seine Lieben erkannte. „Wir haben uns an jeden Zipfel geklammert.“ Mehrfach aber erklärte die Familie in jener Zeit, dass sie eine Wiederbelebung im Ernstfall nicht wünsche, legte das auch schriftlich fest.

Und dann passierte es doch. Inzwischen lag der Opa in einer Wohngemeinschaft für Intensivpflege, wo Pfleger Ende November ein schlimmes Druckgeschwür entdeckten. Bis Weihnachten soll kein Chirurg sich das Übel angesehen haben, erst im Januar wurde der Patient operiert. Es gibt Fotos vom offenen Rücken, bei denen man im wahren Wortsinn nicht hingucken kann: „Ich habe“, sagt Madeleine Hoffmann trocken, „alle Wirbel gesehen.“ Bei der Operation ging etwas schief, der 86-Jährige wurde 20 Minuten reanimiert, kam danach nie wieder richtig ins Leben zurück. „Hirnschaden durch Kreislaufstillstand“, notiert Mediziner Matthias Thöns am 11. März.

Eine Entscheidung über Leben und Tod

Half der Familie mit einem Gutachen: der Wittener Palliativ-Mediziner Dr. Matthias Thöns.
Half der Familie mit einem Gutachen: der Wittener Palliativ-Mediziner Dr. Matthias Thöns. © Bernd Thissen/dpa

Ratlos wacht die Familie an seinem Bett. „Künstlich am Leben halten stand für uns nie zur Debatte“, alle sehen das so, eine Patientenverfügung hatte auch deshalb niemand geschrieben. „Es ist nicht einfach, wenn man über Leben und Tod entscheiden soll“, sagt Madeleine Hoffmann, aber sie taten es doch. Baten den betreuenden Hausarzt, die Maschinen abzustellen, die 16 Medikamente abzusetzen, das Leiden zu lindern, der Opa sollte endlich „ein menschenwürdiges Ende haben“. Eine Palliativmedizinerin, eine Expertin also, soll abgelehnt haben: „Das, was sie wünschen, ist Sterbehilfe.“

Erst ihr Kollege Thöns sah das anders. Innerhalb von einem Tag verfasste er ein Gutachten, ein Amtsrichter entschied, dass künstliche Beatmung und Ernährung beendet werden dürfen. Es dauerte danach zwei Tage, bis der geliebte Opa starb. Es war der 8. März, die Beatmungsmaschine lief noch mehr als eine Stunde weiter.

120.000 Euro Behandlungskosten sind schon bezahlt

Madeleine Hoffmann hat Schuldgefühle, „es nagt, dass wir das alles zugelassen haben“. Und sie will nicht, dass es wieder passiert, sie haben jetzt Patientenverfügungen, alle. „Wir sind die nächsten, die da liegen.“ Dr. Thöns hat ihnen gesagt, was er auch schon in einem Buch geschrieben hat: dass es ein lukratives Geschäft für die Kliniken sei, Sterbende mit den Möglichkeiten der Technik am Leben zu halten. Hoffmann glaubt ihm, sie sieht es an den Rechnungen: 120.000 Euro Behandlungskosten sind aufgelaufen, das ist noch nicht alles. Allein die Beatmung des Großvaters schlug mit 27.000 Euro pro Monat zu Buche. „Da sind Summen geflossen...“ Durfte der Opa deshalb nicht sterben?

Auch interessant

Die Familie hat Anzeige erstattet gegen Ärzte verschiedener Einrichtungen, fahrlässige Tötung steht darin, Freiheitsberaubung, Nötigung. Und es gibt eine Zivilklage auf Schadenersatz der Witwe, die zur Eisernen Hochzeit still an seinem Krankenbett saß. Dabei geht es ihr und auch Madeleine Hoffmann „nicht ums Geld“. Die Enkelin fordert: „Es muss sich gesetzlich etwas ändern!“ Sie will, dass Menschen wie ihr Lieblings-Opa gehen dürfen, wenn ihre Zeit gekommen ist.

>>INFO: ÄRZTE HAFTEN NICHT FÜR LEBENSVERLÄNGERUNG

Um den Patientenwillen ging es auch in einem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof. Anfang April urteilten die Richter: Ärzte haften nicht, wenn sie einen Patienten am Leben halten, obwohl eine Besserung seines Zustands nicht mehr zu erwarten ist.

In dem Fall hatte ein Mann einen Arzt wegen Körperverletzung verklagt , der seinen dementen Vater (82) über zwei Jahre künstlich ernähren ließ. Ein Weiterleben sei kein „Schaden“, heißt es im Urteil. Eine Patientenverfügung gab es auch hier nicht.

Der Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns aus Witten (www.zweitmeinung-intensiv.de) kämpft für einen anderen Umgang mit dem Lebensende. In seinem Buch „Patient ohne Verfügung“ kritisierte er „das lukrative Geschäft mit dem Sterben“.