Witten. . Ein kritisches Buch über den Umgang mit Sterbenskranken gerade im Krankenhaus könnte hohe Wellen schlagen. Geschrieben hat es ein Arzt aus Witten.
- Dr. Matthias Thöns rechnet in Buch mit der Überversorgung am Lebensende ab
- Für die Kliniken sei das ein großes Geschäft, meint der Wittener Palliativmediziner
- Er erwartet nach der Veröffentlichung Gegenwind der Pharmaindustrie und Krankenhäuser
Schwere Vorwürfe gegen seine Kollegen erhebt der Wittener Arzt Dr. Matthias Thöns: Viele Ärzte würden Sterbenskranke gegen ihren Willen qualvoll mit Apparatemedizin behandeln, selbst wenn es keinerlei Hoffnung auf Besserung mehr gebe, sagt der Wittener Palliativmediziner..
Es werde „bestrahlt, geröntgt, operiert, katheterisiert und chemotherapiert, was die Gebührenordnung hergibt“. Thöns klagt an: „Ich habe mehrfach erlebt, dass bis zur Leichenstarre beatmet wird.“ Das Lebensende sei für die Kliniken ein großes Geschäft: „Es geht nicht um den Menschen, sondern nur noch um Gewinne.“ Mit diesen Beschuldigungen geht der 49-Jährige jetzt an die Öffentlichkeit.
Der Patientenwille werde oft nicht beachtet
Am Donnerstag (1.9.) erscheint sein Buch „Patient ohne Verfügung“. Darin schildert er zahlreiche erschreckende Fälle aus dem Klinik-Alltag. Er beschreibt das fatale System von Budgetierung, Bonusverträgen und Bestechung, Anhand von Zahlen und Beispielen erklärt Thöns detailliert, wie das lukrative Geschäft mit dem Sterben funktioniert. Sein Fazit: Übertherapie und Fehlversorgung spülen den Krankenhäusern jährlichen Millionen in die Kassen.
Der Patientenwille werde dabei oft nicht beachtet, sagt der stellvertretende Landes-Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Kranke, die längst ins Hospiz wollten, würden in mancher Klinik mit fadenscheinigen Begründungen bis zum letzten Tag festgehalten. Noch auf dem Sterbebett werde – trotz anderslautender Verfügung -- die Dialyse angestellt: „Hauptsache, die Maschinen laufen.“
„Ein Todkranker greift natürlich nach jedem Strohhalm“
Das Argument der Ärzte, viele Patienten wollten aber die Maximalversorgung, lässt Thöns nicht gelten. „Ein Todkranker greift natürlich nach jedem Strohhalm. Aber es ist verwerflich, das auszunutzen.“ Er fordert mehr ehrliche Aufklärung in den Kliniken. „Denn niemand wird sich für eine qualvolle Chemotherapie mit schlimmen Nebenwirkungen entscheiden, wenn wir offen dazu sagen, dass sie das Leben bestenfalls um vielleicht zwölf Tage verlängert.“ Der Wittener plädiert stattdessen für mehr und bessere Palliativversorgung: „Nur sie bringt nachweislich bessere Lebensqualität, weniger Depressionen und ein längeres Leben.“
Gegenreaktionen einkalkuliert
Der Wittener Arzt weiß, dass er mit seinem Buch in ein Wespennetz sticht. Er befürchtet nicht nur, dass die Pharma-Industrie gegen die Veröffentlichung vorgehen könnte, Thöns fürchtet auch die Gegenwehr seiner Klinik-Kollegen: „Ich bin als niedergelassener Arzt ja auf deren Patienten-Zuweisungen angewiesen.“ Warum er das Buch dennoch auf den Markt bringt? „Wenn ich Veränderungen will, dann brauche ich Öffentlichkeit“. Er habe einsehen müssen, dass man mit freundlich formulierten Bittbriefen an die Chefärzte nicht weiterkomme. „Es geht schließlich um deren Pfründe.“
Interview mit Dr. Matthias Thöns
Am Donnerstag erscheint das Buch „Patient ohne Verfügung – das Geschäft mit dem Lebensende“. Geschrieben hat es der Wittener Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns (49). Wir sprachen mit ihm.
Man könnte Ihnen vorwerfen, Sie wollten mit dem Buch nur Kasse machen. Was sagen Sie denen?
Thöns: Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe tatsächlich große Angst, dass mir die Kliniken nach der Veröffentlichung keine Patienten mehr zuweisen. Aber ich hoffe, dass ich im Gegenzug ganz viele Hausärzte mit ins Boot holen kann.
Das Buch ist also ein Risiko für Sie. Warum wagen Sie es?
Weil ich mich über das System ärgere, seitdem ich Palliativmediziner geworden bin. Die Versorgung in mancher Klinik ist nicht so, wie man sie sich für seine eigenen Eltern oder Großeltern wünschen würde. Tatsächlich lehnen ja auch 90 Prozent aller Ärzte eine aggressive Therapie am Lebensende ab – aber leider nur für sich selbst. Aber natürlich habe ich mit meinem Team vor der Veröffentlichung gesprochen. Alle haben gesagt: „Mach es bitte, die Zustände sind einfach entsetzlich.“
Ihre Vorwürfe wiegen schwer. Sie meinen offenbar nicht nur einzelne schwarze Schafe im weißen Kittel, sondern eine ganze Herde...
Ja, da läuft etwas in unserer Gesellschaft schief. Fatale Gewinnanreize für die Kliniken führen zu einer qualvollen Fehlversorgung. Alle wissen es und viele machen mit: Rund 40 Prozent der Chef-Chirurgen geben sogar zu, Operationen durchzuführen, die eigentlich nicht nötig sind. Um das ganz klar zu sagen: Das sind Straftaten! Und wir reden hier nicht über Parken im Halteverbot, sondern über Körperverletzung – wenn’s schlecht läuft mit Todesfolge.
Fingierten Brief an 250 Pflegedienste geschrieben
Sie sagen, der Wille der Patienten werde dabei wissentlich missachtet, um Kasse zu machen.
Um das zu belegen, habe ich einen fingierten Brief an 254 Pflegedienste geschrieben, in dem ich sie bitte, einen „wohlhabenden Onkel, der im Koma liegt“, gegen seine ausdrückliche Patientenverfügung weiter zu behandeln. 90 Prozent der Angeschriebenen unterstützten das Anliegen ohne Wenn und Aber – auch sie wären streng genommen Straftäter.
Ihre Beispiele sind erschreckend, ihr Fazit ist bedrückend. Was kann ich als Patient denn tun, damit ich im Falle eines Falles nicht in die Mühlen des Gesundheitssystems gerate?
Bestehen Sie auf eine Zweitmeinung in einer anderen Klinik oder bei Ihrem Hausarzt. Das ist ihr gutes Recht. Leider wird so ein Zweitgutachten von den Kassen sehr schlecht honoriert, sonst würde man schneller einen Termin dafür bekommen – und 60 Prozent der Operationen könnten verhindert werden. Zweitens: Kümmern Sie sich rechtzeitig nicht nur um eine Patientenverfügung, sondern auch um einen hartnäckigen Vorsorge-Bevollmächtigten, der Ihren Willen durchsetzen kann und sich nicht von den Halbgöttern in Weiß beschwatzen lässt.