Gelsenkirchen. . Die „Ruhrgebietskonferenz Pflege“ fordert eine völlig andere Pflegeversicherung. In Gelsenkirchen stellen sich innovative Pflege-Projekte vor.
Die „Ruhrgebietskonferenz Pflege“ fordert einen radikalen Systemwechsel bei der Pflegeversicherung: Sie soll eine Vollversicherung mit gesetzlich festgelegtem Eigenanteil des Versicherten werden. Heute ist es umgekehrt: Der Versicherte zahlt, und die Pflegeversicherung trägt einen Anteil.
Da Pflege immer teurer werde, seien nicht nur die Familien belastet. „Immer mehr Kommunen müssen finanzielle Unterstützung leisten“, sagte Ulrich Christofczik, Vorstand des Evangelischen Christophoruswerks und einer der Sprecher der Konferenz, am Montag in Gelsenkirchen.
Im Ruhrgebiet 104.000 neue Pflege-Arbeitsplätze
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Die Pflegeversicherung sei „eingeführt worden, um die Menschen unabhängig von Sozialhilfe zu machen. Heute stehen wir wieder vor der Situation.“ Die „Ruhrgebietskonferenz Pflege“ ist ein Zusammenschluss von mehr als 40 privaten, kirchlichen und gemeinnützigen Trägern mit zusammen mehr als 20.000 Beschäftigten.
Es ging auch um Pflege als Wirtschaftsfaktor. Nach Zahlen des Gelsenkirchener „Instituts für Arbeit und Technik (IAT)“ sind seit 2008 im Ruhrgebiet in der Pflege 104.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden. Je nach Stadt lag die Zuwachsrate bei 28 bis 62 Prozent. Der Gesundheits- und Sozialbereich insgesamt beschäftigt im Revier mehr Menschen als die Industrie.
Barrierefreies Schiff mit Pflegebad
Gedächtnistraining und Sitztanz sind vielleicht nicht ganz das richtige, wenn man, sagen wir, 40 Jahre alt ist und im Pflegeheim lebt. „Das kommt dann nicht so gut an“, sagt Thomas Ahrens, Prokurist beim Arbeiter-Samariterbund (ASB) Herne-Gelsenkirchen. Der betreibt in Herne-Mitte eine eigene Station mit 26 Plätzen nur für jüngere Pflegebedürftige. Menschen mit Muskel- oder Gehirnerkrankungen sind das, Diabetiker, ein schwer verunglückter Motorradfahrer.
Üblicherweise leben sie in Deutschland in normalen Pflegeheimen: umgeben von Menschen, die Jahrzehnte älter sind und häufig dement. „In der Regel gibt es keinen Austausch zwischen ihnen und auch keine passenden Aktivitäten“, sagt Ahrens. Auf der Station für Jüngere in Herne hingegen gibt es: WLAN, Konsolen, Technik aller Art – und auf dem Wasser ein barrierefreies Schiff mit Pflegebad.
„Pflege und Betreuung sind viel besser als ihr Ruf“
Am Montag stellt Ahrens auf der Konferenz in Gelsenkirchen das Projekt vor. Weil es völlig plausibel ist, dass junge Pflegefälle andere Bedürfnisse haben als ältere; weil Heime aber kaum darauf eingerichtet sind. Und so will die „Ruhrgebietskonferenz Pflege“ auch zeigen, was Pflege heute schon leistet, wie innovativ sie sein kann.
„Pflege und Betreuung sind im Ruhrgebiet viel besser als ihr Ruf“, sagt Christofczik, einer der Sprecher der Allianz. Und so wird die Diakonie Bochum vorstellen, wie man durch Sprachsteuerung die ungeheure Dokumentationsarbeit erleichtern kann; oder es geht bei der Arbeiterwohlfahrt aus Dortmund gerade um E-Lernen in der Pflege.
Franz Müntefering tritt für Tarifverträge ein
„Der Strukturwandel im Ruhrgebiet kann nicht ohne eine leistungsstarke Pflegewirtschaft bewältigt werden“, sagt Michaela Evans vom IAT in ihrer Rede. Denn „flexibel kann ich als Arbeitnehmer nur sein, wenn ich bei Kinderbetreuung und Pflege Versorgungssicherheit habe“. Das sei auch „wichtig für einen erfahrbaren Sozialstaat und den demokratischen Zusammenhalt“. Schon heute trage jeder elfte Erwerbstätige „Pflegeverantwortung“.
Auch Franz Müntefering ist da, der frühe Vizekanzler und SPD-Vorsitzende wirkt heute als Vorsitzender der „Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen“. Er tritt für allgemeinverbindliche Tarifverträge in der Pflege ein: „Es gehört schlichtweg weg, dass man in ein Heim kommt, wo jeder Mitarbeiter einen separaten Vertrag mit dem Geschäftsführer hat und keiner weiß, was der andere verdient.“
Pflege sei ein Gesellschafts- und kein Randthema: „Wenn jemand pflegebedürftig wird, sind sofort die Kinder hellwach und die Enkel und die Nachbarn.“
Menschen leben in ihrer umgebauten, früheren Kirche
Doch zurück nochmal zum Schaufenster der guten Lösungen. Dort steht mittlerweile Thomas Schubert von der Adolphi-Stiftung aus Essen, die das Seniorenzentrum „Paulus-Quartier“ betreibt. Dabei handelt es sich um die frühere, umgebaute Pauluskirche: mit Wohn- und Pflegeplätzen, betreutem Wohnen, aber auch einer Kita und einem öffentlichen Café – und doch ist das Kirchengebäude noch als solches zu erkennen, der Taufstein ist da, die Kreuze sind da.
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Es erfülle einerseits den Bewohnern den Wunsch, „in der Heimat wohnen zu bleiben, in vertrauter Umgebung und mit den alten Beziehungen“. Und zum Teil sogar in ihrer alten Kirche, sagt Schubert, der Leiter des Paulus-Quartiers: „Da kommen Söhne und Töchter ins Haus, die eine Beziehung zu dem Gotteshaus hatten und jetzt Vater oder Mutter dort untergebracht wissen. Das ist eigentlich schon einzigartig.“