Haltern. . Christian, 11, verlor seine große Schwester Linda. Janik, 20, seine kleine Schwester Aline. Der Alltag kommt gegen ihren Schmerz nur selten an.
Wenn Christian an jenen Tag denkt, den Tag, an dem sie ihm sagten, dass Linda nicht mehr nach Hause kommt, nie mehr: Dann sieht er das Sofa. Omas und Opas Sofa, auf dem er saß, oder eigentlich hat er gar nicht gesessen, es ist auch egal. Was der Elfjährige sicher weiß, ist: „Wie traurig ich da war.“
Linda, seine große Schwester, fand er „manchmal ganz schön nervig“, aber Christian vermisst sie schlimm: „Sie war immer für mich da.“ Und: „Sie fand mich so süß.“ Es ist dem kleinen Blondschopf etwas peinlich, lieber versucht er, nicht daran zu denken: dass Linda in diesem Flugzeug saß, das in Frankreich abgestürzt ist. Dass ihn das so traurig macht. „Aber wenn man nichts anderes im Kopf hat, kann das manchmal auftauchen.“ Christian stellt sich oft vor, wie es wäre, wenn Linda noch lebte: „Dann würde sie zum Beispiel mit mir Zug fahren“, früh um kurz nach sieben, obwohl sie den späteren nehmen müsste.
Die Angst vor dem Vergessen
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Christian hockt an Lindas Grab, es ist eines von fünf, die auf einem Halterner Friedhof nebeneinander liegen: fünf Gräber fünf junger Mädchen. Fünf Gräber von 16, um so viele Schüler trauert das Joseph-König-Gymnasium, das die Spanisch-Klasse auf einen Austausch geschickt hatte. Fünf Gräber von 150, so viele Menschen zerschellten am Berg bei Seyne-les-Alpes, weil der Copilot ihres Flugzeugs sterben wollte. Es ist jetzt zwei Jahre her, die Gräber sind immer noch bunt, voller Blumen, Laternen, Fotos, Herzen. Gina, Selina, Lea, Aline, Linda – ihr Stein trägt ihren Namen in runder Mädchenschrift, als hätte sie ihn selbst geschrieben. „Was mich echt ärgert“, sagt Christian, „ist, dass ich nicht weiß, wie ich die Windräder hinstellen soll. Die sollen sich doch drehen!“
Auf dem Grab von Aline brennt immer mindestens eine Kerze, „das ist uns ein Bedürfnis“, sagt Janik. Auch er ist ein Bruder, ein großer Bruder, auch er trauert. „Manchmal kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Manchmal, als wäre es gerade erst passiert.“ Es hat sich viel verändert seit dem ersten Jahrestag, sagt der 20-Jährige, „aber ich bin immer noch sehr, sehr traurig“. Nur von außen ist es etwas ruhiger geworden, das ist für Janik ein gutes und ungutes Gefühl zugleich: Er hat Angst vor dem Vergessen.
Gemeinsames Gedenken am Jahrestag
Nicht vor seinem, niemand in der Familie könnte je Aline vergessen, dieses fröhliche, fürsorgliche Wesen, das mit der besten Freundin starb: Helena, die auch ihre Kusine war. Sie sind nur noch Jungs seitdem im Haus. Alines Zimmer ist noch so, wie sie es verlassen hat, als sie auf die Reise ging;
„natürlich“, sagt Janik, „das lassen wir auch“. Aber er sieht ja, dass in der Welt immer neues Schreckliches passiert, es nimmt ihn mehr mit als früher. „Was das mit einer Familie macht. Ich kann mich da reinversetzen.“ In diesen Tagen ist er wieder besonders angespannt, findet es „komisch“, dass das Unterbewusstsein vielen Magenprobleme macht und Kopfschmerzen.
Sie werden wieder nach Frankreich reisen, an die Absturzstelle, wo es dieses „andere“ Grab gibt. „Da drüben“, sagt Janik, wo die Franzosen begruben, was sie nicht zuordnen konnten, wo Wind und Schneeschmelze immer noch „Sachen“ den Berg hinuntertragen. „Unrealistisch“ findet der Student den Ort und noch mehr das Grab: „Man weiß überhaupt nicht, was da drin ist.“ Dass mit ihm aber ein bisschen Welt am Freitag wieder auf das Unglück und damit auf seine Schwester schaut: „Das ist auch schön, der Gedanke.“
Dieses Jahr würde Aline Abitur machen
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Viele Menschen werden danach wieder wegsehen. „Aber für uns ist das nicht vorbei, das bleibt immer.“ Es gibt Tage, da fühlt sich Janik „wie auf einer Achterbahnfahrt“, genauso mies, sagt er, wie am Anfang. Oft aber reißt der Alltag ihn mit, und er weiß, dass das gut ist. Je mehr Zeit vergeht, sagen sie in der Trauergruppe, desto mehr begreifst du, dass das alles eine Tatsache ist. „Die Trauer ist gleich, aber man geht anders damit um.“ Vergangene Woche haben sie über Symbole gesprochen, Symbole für die, die sie verloren haben. Janik hat ein Bild von Aline mitgenommen und das hölzerne Kreuz, das er im Trauergottesdienst bekam. Er sagt, er stellt sich seine Schwester „immer noch wie 16 vor“. Dieses Jahr würde Aline ihr Abitur machen.
„Warum“, fragt Christian, der Elfjährige, „macht ihr keinen Grabstein, der wie ein Pferd aussieht?“ Aline ist so gern geritten, das weiß jeder in Haltern. Wie jeder weiß, dass Linda Reisen liebte. Manchmal, wenn die Mama traurig ist, versucht Christian, sie zu trösten. „Mama“, sagt er dann, „es ist nicht so schlimm.“ Aber es ist schlimm. Christian kann seine Mutter nicht gut ablenken, er schafft es ja nicht mal bei sich selbst. Einen Moment hat er gerade an etwas anderes gedacht. . . „Wie war noch mal die Flugnummer?“ 4U9525.
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